Aus der Münchener Rückversicherungs-AG ist zu hören, dass schon das erstmalige Angebot einer „Briefwahl“ zur Hauptversammlung 2010 von 7% des Grundkapitals genutzt wurde. Insgesamt seien 23% durch Briefwahl und den gesellschaftsbenannten Vertreter repräsentiert worden. Seit dem ARUG 2009 gilt: „Die Satzung kann vorsehen oder den Vorstand dazu ermächtigen vorzusehen, dass Aktionäre ihre Stimmen, auch ohne an der Versammlung teilzunehmen, schriftlich oder im Wege elektronischer Kommunikation abgeben dürfen (Briefwahl).“ So bestimmt es § 118 Abs. 2 AktG. Die Briefwahl bedarf also einer Grundlage in der Satzung. Entsprechende Änderungen haben in diesem Jahr die börsennotierten Gesellschaften in großer Zahl vorgenommen. In der kommenden HV-Saison dürfte die Briefwahl schon zum Marktstandard gehören, insbesondere weil der Deutsche Corporate Governance Kodex empfiehlt (Nr. 2.3.3): „Auch bei der Briefwahl und der Stimmrechtsvertretung soll die Gesellschaft die Aktionäre unterstützen.“ Wer will schon eine Nicht-Entsprechenserklärung ausgerechnet dazu abgeben müssen (S. § 161 AktG)?
Die Briefwahl, die im Ankreuzen eines Internetformulars bestehen kann, ist eine denkbar einfache Möglichkeit der direkten Stimmabgabe. Aber sie birgt einigen Zündstoff, da der Grundsatz, dass nur auf der Hauptversammlung präsente Aktionäre (bzw. deren Vertreter) agieren, verlassen wird. Die Briefwähler sind rechtlich nicht als Teilnehmer an der HV anzusehen, obwohl sie das wichtige Aktionärsrecht der Stimmabgabe wahrnehmen. Um Transparenz herzustellen, hat man bei der Münchener Rück zwischen einer Teilnehmerpräsenz (s. § 129 Abs. 1 Satz 2 AktG) und der zusätzlichen Briefwahlbeteiligung unterschieden und beides dem HV-Publikum verkündet – sonst wären die Abstimmungen auch kaum nachzuvollziehen. Eine weitere Frage ist, ob und wie lange eine Briefstimme widerrufen werden kann. Der Pionier dieser Abstimmungsart, die Münchener Rück, hat eine Änderung bis zum Beginn des Abstimmung in der Präsenz-HV zugelassen. Schließlich ist zu überlegen, ob der schon zur HV feststehende „Block“ der Briefstimmen den anwesenden Aktionären bekannt zu geben ist. Oder sollte das Verfahren so organisiert sein, dass (wie bei politischen Wahlen) nicht einmal der Vorstand von den Briefstimmen erfährt? So entscheidet das österreichische Aktiengesetz: „Vor der Abstimmung in der Hauptversammlung ist sicherzustellen, dass das Stimmverhalten bei der Fernabstimmung dem Vorstand und dem Aufsichtsrat sowie den übrigen Aktionären nicht bekannt wird.“ (§ 126 Abs. 3 öAktG; dasselbe gilt für die schriftliche Briefwahl, § 127 Abs. 3 öAktG).
Briefwahl bedeutet übrigens, dass nur die mit der Aktie verbundene Stimme abgegeben werden kann. Weitergehende Rechte (Rede- und Fragerecht, Antragsrecht, Widerspruch) sind „in der Hauptversammlung“ (§ 118 Abs. 1 Satz 1 AktG) auszuüben. Doch gerade dies ist auch „ohne Anwesenheit an deren Ort“ (§ 118 Abs. 1 Satz 2 AktG) möglich, wenn die Satzung eine Online-Teilnahme ermöglicht und der Vorstand diese Möglichkeit offeriert. In diesem Fall gilt der Internet-Aktionär als Teilnehmer an der Hauptversammlung. Von dieser Variante machen die Gesellschaften nur sehr zögerlich Gebrauch. Es ist ein wenig wie bei dem Hybrid-Antrieb beim Automobil: sowohl elektrisch fahren als auch mit Verbrennungsmotor ist ein doppelter Aufwand. Es müssen also hier wie dort gute Gründe vorliegen, ihn zu treiben.