EFTA-Gerichtshof legt Übernahmerichtlinie aus

Entscheidungen des EFTA-Gerichtshofs sind rar, schon weil der größte Teil der früheren EFTA-Mitgliedstaaten heute der EU angehört. Die verbliebenen – Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz – bilden aber mit Ausnahme der Schweiz gemeinsam mit der EU den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), in dem große Teile des EU-Rechts ebenfalls gelten. Auch der EFTA-Gerichtshof ist daher zur Auslegung von EU-Recht berufen, und aufgrund der Verzahnung von EWR und EU durch den Gemeinsamen EWR-Ausschuss haben Entscheidungen des EFTA-Gerichtshofs für die Auslegung europäischen Rechts faktisch dieselbe Bedeutung wie solche des EuGH. Das gilt nicht zuletzt auch deshalb, weil die beiden Gerichte in Luxemburg „Tür an Tür“ sitzen und deshalb auch auf persönlicher und organisatorischer Ebene eng miteinander verbunden sind. Entsprechende Beachtung verdient ein vor wenigen Tagen bekannt gewordenes Urteil des EFTA-Gerichtshofs, in dem sich dieser erstmalig zur EU-Übernahmerichtlinie äußert.

Anlass war eine Vorlagefrage des Bezirksgerichts Oslo hinsichtlich der Auslegung der Regeln über den Angebotspreis bei Pflichtangeboten nach Art. 5 Abs. 4 der Übernahmerichtlinie. Nach dem norwegischen Wertpapierhandelsgesetz muss der Angebotspreis für Pflichtübernahmeangebote mindestens so hoch sein wie der höchste Preis, der vom Bieter in einem Zeitraum von sechs Monaten vor dem Pflichtangebot bezahlt wurde; wenn es allerdings klar ist, dass der Marktpreis zum Zeitpunkt des Pflichtangebots höher war, muss der Angebotspreis mindestens so hoch sein wie der Marktpreis.

Periscopus AS als bereits mit 30,2% an der börsennotierten Gyldendal ASA beteiligter und deren zweitgrößter Aktionär berief sich auf diese Regelung, als die Erik Must AS ein Pflichtangebot für alle Aktien an Gyldendal ASA abgab, um eine Erhöhung des Angebotspreises zu erreichen. Der EFTA-Gerichtshof befand allerdings, dass die norwegische Bestimmung, nach der alternativ auf einen höheren „Marktpreis“ der Wertpapiere abzustellen sei, zu „vage“ sei, um als Preisregel vor Art. 5 Abs. 4 der Übernahmerichtlinie Bestand zu haben.

Dieser strikten Position des Gerichtshofs ist im Ergebnis beizupflichten: Die Anknüpfung an einen nach formalen Kriterien ermittelten Pflichtangebotspreis hat den hohen Wert der Vorseh­barkeit und Klarheit für sich; in einer auf Schnelligkeit angelegten Kapitalmarkttransaktion spielen diese Gesichtspunkte eine größere Rolle als die auf eine höhere Einzelfallgerechtigkeit abzielende Bewertung nach einem abweichenden „Marktpreis“.

Für das deutsche Recht wirkt sich die Entscheidung insbesondere als Handlungsanweisung an Gesetzgeber und BaFin aus: Preisfestlegungen (und auch andere Gestaltungsvorgaben), die von im Vorhinein nicht kalkulierbaren Parametern oder von nicht vorhersehbaren Ermessenserwägungen abhängen, dürften mit europäischem Recht – auch mit Blick auf die dahinter stehende Kapitalver­kehrsfreiheit – nicht vereinbar sein. Das betrifft nicht nur aktuelle Fälle wie den der Übernahme von Hochtief, wo die deutschen Behörden zu Recht davon ausgegangen sind, dass ein höherer Angebotspreis nur auf der Grundlage einer (bedauerlicherweise fehlendenden) klaren gesetzlichen Regelung durchsetzbar ist, sondern etwa auch das Konkurrenzverhältnis zum Beherrschungsvertrag, der in Deutschland in vielen Fällen notwendig ist, um eine börsennotierte Gesellschaft tatsächlich zu beherrschen; denn hier könnte sich die Frage stellen, ob die dort deutlich weniger vorhersehbaren Regelungen zur Unternehmensbewertung mit dem „Klarheitsgebot“ europäischen Rechts vereinbar sind, auch wenn das deutsche Konzernrecht als solches nicht mit der EU-Übernahmerichtlinie konfligiert (zu weiteren Beispielen Krause, ECFR 2011, Heft 1).

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