Das „Star Channel“-Urteil des EuGH: Ende der Durchgriffshaftung in AG und GmbH?

Eine Entscheidung des Gerichtshofes der EU vom Oktober 2010 beschäftigt sich mit mitgliedstaatlichen Vorschriften zur Durchgriffshaftung in der Kapitalgesellschaft. Das Urteil gibt Anlass, die unionsrechtlichen Grenzen nationaler Haftungstatbestände auszuleuchten. Der Gerichtshof hatte über ein griechisches Gesetz über den Betrieb von Fernsehsendern zu befinden. Danach können Geldbußen nicht nur gegen die Betreibergesellschaften, sondern – gesamtschuldnerisch – auch gegen alle mit mehr als 2,5% beteiligten Aktionäre derselben verhängt werden. Nachdem gegen Idryma Typou AE, eine Aktionärin der Betreibergesellschaft des Fernsehsenders „Star Channel“ wegen einer Ehrverletzung eine Geldbuße verhängt worden war, wandte diese sich an den griechischen Staatsrat, der den Fall dem Gerichtshof der EU zur Vorabentscheidung einiger Auslegungsfragen vorlegte. Der Gerichtshof prüfte das Gesetz am Maßstab der EU-Publizitätsrichtlinie wie auch der Kapitalverkehrsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit.

Kein Verstoß gegen die EU-Publizitätsrichtlinie

Gegen die Vereinbarkeit der Gesellschafterhaftung mit der EU-Richtlinie 2009/101/EG wurde geltend gemacht, dass der dort verwendete Begriff „Aktiengesellschaft“ einen verpflichtenden Mindestgehalt habe. Die grundlegenden Strukturmerkmale der Aktiengesellschaft, von denen der nationale Gesetzgeber nicht abweichen könne, seien (a) die strenge Unterscheidung zwischen dem Vermögen der Gesellschaft und dem persönlichen Vermögen ihrer Aktionäre und (b) das Fehlen einer persönlichen Haftung der Aktionäre für die Gesellschaftsschulden, da die Aktionäre nur dazu verpflichtet seien, ihre Einlage zu zahlen, deren Höhe sich nach ihrer Beteiligung am gesamten Gesellschaftskapital richte. Der Gerichtshof teilt diese Bedenken nicht, sondern verweist zutreffend auf den begrenzten Regelungszweck der Richtlinie, der allein auf die Offenlegung, die Gültigkeit eingegangener Verpflichtungen und die Begrenzung der Nichtigkeit von Gesellschaften abziele. Zu ergänzen ist, dass die Richtlinie generell nicht dem Schutz der Gesellschafter, sondern dem Schutz Dritter dient, wie in der Präambel mehrfach zum Ausdruck kommt. Auch einen einheitlichen Begriff der Aktiengesellschaft oder der Gesellschaft mit beschränkter Haftung gibt es – wie der Gerichtshof mit Recht feststellt – nicht; vielmehr werden in der Richtlinie die mitgliedstaatlichen Gesellschaftstypen aufgeführt, die somit als solche lediglich hingenommen werden und nur hinsichtlich der in der Richtlinie enthaltenen Vorgaben einem Anpassungszwang unterworfen sind. Folglich ist kein allgemeiner Grundsatz des europäischen Gesellschaftsrechts erkennbar, wonach das in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen angelegte Trennungsprinzip keinesfalls durchbrochen werden darf.

Durchgriffshaftung als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit oder der Kapitalverkehrsfreiheit?

Auf primärrechtlicher Ebene stellt der Gerichtshof sodann aber eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit durch die hier vorliegende Strukturhaftung fest, die nicht gerechtfertigt sei. Dabei bestätigt er zunächst seine jüngere Rechtsprechung zur tatbestandlichen Überschneidung der beiden Grundfreiheiten, wenn eine mitgliedstaatliche Regelung sowohl Beteiligungen erfasse, die einen „sicheren Einfluss“ auf die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft ermögliche wie auch Beteiligungen in Form reiner Geldanlagen ohne Einflussmöglichkeit. Die griechische Regelung könne unter die Niederlassungsfreiheit fallen. Angreifbar ist diese Aussage allerdings vor dem Hintergrund des europäischen Gesellschaftsrechts, wonach – so die Konzernbilanzrichtlinie – eine derartige Beteiligung noch keinen sicheren Einfluss vermittelt, auch nicht bei schwacher Hauptversammlungspräsenz der übrigen Gesellschafter.

Den Beschränkungscharakter der griechischen Haftungsregel leitet der Gerichtshof aus deren stärkerer Abschreckungswirkung gegenüber EU-ausländischen als gegenüber griechischen Investoren ab. Denn das Ziel der Haftungserstreckung auf die Gesellschafter bestehe offenbar darin, diese dazu zu veranlassen, mit anderen Gesellschaftern Allianzen zu schließen, um die Entscheidungen über die Führung der Geschäfte der Gesellschaft beeinflussen zu können. Dies aber sei „zweifellos“ schwieriger für Investoren anderer Mitgliedstaaten, die über die „Verhältnisse der Medienlandschaft in Griechenland“ schlechter im Bilde seien als griechische Investoren. Diese Argumentation überrascht, führt sie doch ganz generell zum Beschränkungscharakter gesellschaftsrechtlicher Haftungstatbestände. Denn der ausländische Gesellschafter könnte stets geltend machen, er habe eine geringere Marktkenntnis und damit geringere Möglichkeiten für eine strategische Vermeidung der Haftung. Ein derartig weiter Beschränkungsbegriff würde große Gebiete des mitgliedstaatlichen Gesellschaftsrechts als Beschränkung der Grundfreiheiten und damit rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen. Das aber ginge weit über die Aufgabe der Grundfreiheiten hinaus, bloß den Marktzugang und die Marktgleichheit zu sichern, und auch der Grundsatz der mitgliedstaatlichen Rechtssetzungskompetenz (Subsidiarität) wäre damit verletzt.

Dass der Gerichtshof im Fall „Star Channel“ nicht die Tür zu einer umfassenden Kontrolle des gesamten nationalen Gesellschaftsrechts öffnen wollte, wird aus der ausdrücklichen Kennzeichnung der beanstandeten griechischen Regelung als Beeinträchtigung des Marktzugangs für EU-ausländische Investoren deutlich. Denn damit bleibt für die Niederlassungsfreiheit wie auch für die Kapitalverkehrsfreiheit die Zulässigkeit rein tätigkeitsbezogener Beschränkungen analog der Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit („Keck“) offen. Dazu zählen Tatbestände der gesellschaftsrechtlichen Verhaltenshaftung, weil diese – anders als die griechische Regelung – nicht schon an die formale Begründung der Gesellschafterstellung in einem bestimmten Staat anknüpfen, sondern erst bei spezifischen – meist gläubigerschädigenden – geschäftspolitischen Maßnahmen der Gesellschafter eingreifen. Zugleich zeigt das Urteil, dass eine flächendeckende Überprüfung mitgliedstaatlichen Gesellschaftsrechts anhand der Grundfreiheiten nicht zu befürchten steht.

Die klassischen Durchgriffstatbestände des deutschen Rechts dürften daher auch im Lichte des „Star Channel“-Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Union nicht gegen die Niederlassungs- oder Kapitalverkehrsfreiheit verstoßen. Dies gilt für die materielle Unterkapitalisierung, die Vermögensvermischung, die Haftung in Abhängigkeits- und Konzernverhältnissen und die Haftung bei „existenzvernichtenden Eingriffen“ in der Unternehmenskrise.

Gesamtbewertung

Insgesamt zeigt sich, dass die EU-Publizitätsrichtlinie nationalen Durchgriffshaftungstatbeständen nicht entgegensteht und auch eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung des mitgliedstaatlichen Rechts am Maßstab der Grundfreiheiten nicht in Betracht kommt (EuGH-Urteil vom 21. 10. 2010 – Rs. C-81/09 – Star Channel).


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