Eine neue Entscheidung des OLG München (Urteil vom 8. 9. 2010 – 7 U 2568/10) wirft ein Schlaglicht auf die schillernde Figur des faktischen Organs im Verantwortlichkeitsrecht der GmbH: Der Insolvenzverwalter der insolventen Könemann Verlagsgesellschaft mbH (KVG) hatte den Beklagten als faktischen Geschäftsführer der KVG auf Zahlung von 40 Mio. € in Anspruch genommen. Der Beklagte führte als Komplementär die Langenscheidt KG, die über eine Beteiligungsgesellschaft Geschäftsanteile in Höhe von 37,5% an der KVG erworben hatte. Zudem hatte sich die Langenscheidt KG mit einer stillen Einlage von etwa 20 Mio. € an der KVG beteiligt. Als sich die finanzielle Krise der KVG zuspitzte, schaltete sich der Beklagte durch verschiedene interne und externe Handlungen in deren Geschäftsführung ein. Der klagende Insolvenzverwalter sah bei dieser Sachlage die Voraussetzungen einer faktischen Organschaft als gegeben an und nahm den Beklagten nach § 64 Abs. 2 GmbHG a. F. (= § 64 Satz 1 GmbHG n. F.) auf Erstattung von Zahlungen in Anspruch, die nach Eintritt der Insolvenzreife der KVG gezahlt worden sein sollen.
Das OLG München ließ zunächst dahinstehen, ob ein faktischer Geschäftsführer überhaupt nach § 64 Abs. 2 GmbHG a. F. in Anspruch genommen werden könne. Jedenfalls lägen die Voraussetzungen für die Annahme eines faktischen Geschäftsführers nicht vor. Im Leitsatz des Gerichts heißt es dazu: „Das Institut der faktischen Geschäftsführung und die sich hieraus ergebenden Haftungsfolgen sind restriktiv bei Fallkonstellationen anzuwenden, in denen wenig eigenes, nach außen hervortretendes, üblicherweise der Geschäftsführung zuzurechnendes Handeln des Betroffenen vorliegt, welches aber zum Zwecke der Konsolidierung/Rettung eines finanziell angeschlagenen Unternehmens vorgenommen wird.“
Leitsatz und Urteilsbegründung fordern in verschiedener Hinsicht zu Kritik und Widerspruch heraus:
– Die vom OLG München offen gelassene Frage einer Haftung des faktischen GmbH-Geschäftsführers nach § 64 Abs. 2 GmbHG a. F. ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung längst beantwortet. Nach einer BGH-Entscheidung aus dem Jahre 2005 (Urteil vom 11. 7. 2005 – II ZR 235/03, DB 2005 S. 1897) ist der faktische Geschäftsführer einer GmbH nicht nur zur rechtzeitigen Stellung des Insolvenzantrags nach § 64 Abs. 1 GmbHG a. F. verpflichtet, sondern hat auch die haftungsrechtlichen Folgen einer Versäumung dieser Pflicht gemäß § 64 Abs. 2 GmbHG a. F. zu tragen.
– Dass das OLG München bei der tatbestandlichen Ausformung des faktischen Geschäftsführers maßgeblich auf das Auftreten im Außenverhältnis abstellt, entspricht zwar der Rechtsprechung des BGH, sieht sich aber durchgreifenden Bedenken ausgesetzt: Vor allem spielt es für den Gesellschafter- und Gläubigerschutz keine Rolle, ob sich die tatsächliche Einflussnahme auf die Geschäftsführung auch im Außenverhältnis niederschlägt oder nicht. Die Figur des faktischen Organs dient gerade nicht dem Vertrauensschutz. Ein gerade erschienener Zeitschriftenbeitrag eines BGH-Richters (Strohn, DB 2011 S. 158) lässt hoffen, dass der BGH seine Spruchpraxis in diesem Punkt weiter ausdifferenziert.
– Das OLG München erkennt zutreffend, dass GmbH-Gesellschafter, die nur ihre Mitverwaltungsrechte ausüben und sich dabei eingehend mit Gesellschaftsangelegenheiten befassen, nicht als faktische Geschäftsführer haften: § 37 Abs. 1 GmbHG gestattet es ihnen ausdrücklich, durch beschlussförmige Weisungen Einfluss auf die Unternehmensleitung zu nehmen. Nicht überzeugend ist hingegen die weitere Schlussfolgerung, dass eine entsprechende Beschlussfassung der Gesellschafterversammlung der KVG unerheblich sei, weil sich der Beklagte wegen der maßgeblichen Beteiligung der Langenscheidt KG an der KVG dort ohnehin durchgesetzt hätte: Ein (Mehrheits-)Gesellschafter, der unter Ausschaltung der hierfür allein zuständigen Gesellschafterversammlung Weisungen erteilt und die Geschäftsführung so maßgeblich steuert, verlässt den geschützten Bereich des Weisungsrechts und verletzt die gesetzlich verbrieften Teilnahmerechte der Minderheitsgesellschafter.
– Dem vom OLG München kreierten „Sanierungsprivileg“ für einen faktischen Geschäftsführer fehlt eine tragfähige dogmatische Ableitungsbasis. In seiner holzschnittartigen Form ist es ohne eine weitere Einhegung oder Qualifizierung auch rechtspolitisch fragwürdig.
– Auch die abschließende Bemerkung des OLG München, eine Revision sei nicht zuzulassen, weil die mögliche Inanspruchnahme als faktischer Geschäftsführer im Gesellschaftsrecht nicht von vordringlicher Bedeutung sei und nach langjähriger Erfahrung des Senats eher eine untergeordnete Rolle spiele, trifft m. E. nicht zu. Das Gegenteil belegt jüngst die materialreiche Bestandsaufnahme eines BGH-Richters des für Gesellschaftsrecht zuständigen II. Zivilsenats (vgl. Strohn, DB 2011 S. 158).