Die Tariffähigkeit einer von Gewerkschaften gebildeten Spitzenorganisation im Sinne des § 2 Abs. 3 TVG setzt voraus, dass deren Organisationsbereich mit dem ihrer Mitgliedsgewerkschaften übereinstimmt. Hinter diesem eher formaljuristisch anmutenden Leitsatz einer Entscheidung des 1. Senats des BAG vom 14. 12. 2010 (BAG-Beschluss – 1 ABR 19/10, DB 2011 S. 593, DB0407999) steckt mehr Sprengstoff für die gesamte Zeitarbeitsbranche als man vermuten könnte. Was ist der Hintergrund?
Die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) hat seit ihrer Gründung Ende 2002 eine Vielzahl von Tarifverträgen mit Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden der Zeitarbeitsbranche abgeschlossen. Hintergrund dieser Tarifverträge ist eine Regelung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG). Nach § 9 Nr. 2 AÜG sind Vereinbarungen unwirksam, die für die Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung schlechtere als die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts vorsehen. Von diesem Equal Pay Grundsatz kann nur abgewichen werden, wenn ein Tarifvertrag abweichende Regelungen zulässt.
Die von der CGZP abgeschlossenen Tarifverträge sahen durchweg geringere Entgelte vor als sie in den jeweiligen Entleiherbetrieben galten. Die Gewerkschaft ver.di machte nun geltend, dass die CGZP nicht tariffähig sei. Das hat das BAG auch so gesehen. Da der Organisationsbereich der Tarifgemeinschaft als Spitzenorganisation nicht mit demjenigen seiner Mitgliedsverbände übereinstimme, könnten letztere der CGZP ihre Tariffähigkeit nicht vollständig übermitteln. Auf die – seit vielen Jahren zwischen den DGB-Gewerkschaften und den christlichen Gewerkschaften umstrittene – Frage, ob letztere wegen ihrer geringen Mitgliederzahl überhaupt mächtig genug seien, um Tarifverträge abzuschließen, komme es daher im konkreten Fall gar nicht an.
Als Konsequenz der Entscheidung sind alle von der CGZP abgeschlossenen Tarifverträge von Anfang an als nicht existent anzusehen. Vertragliche Vereinbarungen zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer unterhalb der Equal Pay Grenze sind unwirksam. Die Arbeitnehmer können nach § 10 Abs. 4 AÜG für die Vergangenheit die Differenz bis zur Grenze der Verjährung geltend machen.
Finanziell gravierender sind die Ansprüche der Sozialversicherungsträger. Sie werden auf die Differenz zwischen Equal Pay und tatsächlich gewährter Vergütung die Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen verlangen. Rückwirkend ist eine Geltendmachung für die letzten vier Jahre möglich. Soweit der Leiharbeitnehmer seine Nachzahlungsansprüche nicht geltend macht, hindert dies die Entstehung der Nachzahlungsansprüche der Sozialversicherungsträger nicht. In diesem Fall dürften auch die Arbeitnehmerbeiträge beim Verleiher hängenbleiben. Allerdings dürfte die Bezifferung der rückständigen Sozialversicherungsbeiträge mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden sein.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Entscheidung des BAG für die von ihr betroffenen Verleiher ganz erhebliche Nachforderungen an Sozialversicherungsbeiträgen bringen wird, die manche Beteiligten an die Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit führen wird. Die in die öffentliche Diskussion eingebrachte Möglichkeit der Stundung wird ihnen nicht viel helfen. Sie kann zwar den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit verhindern, nicht aber den Eintritt der Überschuldung: Rückstellungen für solche Forderungen müssen nämlich sofort gebildet werden, sofern jedenfalls die zu erwartenden Nachzahlungen sich einigermaßen beziffern lassen.
Auf die Entleiher werden voraussichtlich Unmengen von Auskunftsansprüchen nach § 13 AÜG zukommen, mithilfe derer Leiharbeitnehmer ihre Nachforderungsansprüche gegen den Verleiher beziffern wollen. Außerdem dürfte in Zukunft die Leiharbeit jedenfalls als Instrument der Lohnkostensenkung uninteressant werden.