Im EU-Kartellrecht kann der Kartellverstoß einer Tochtergesellschaft der Konzernmutter unter bestimmten Umständen zugerechnet werden, weil die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Verhalten am Markt nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt. Die Konzernmutter ist dann (Mit-)Adressat einer Bußgeldentscheidung der EU Kommission und haftet als Gesamtschuldner für die Bußgelder in bis zu dreistelliger Millionenhöhe.
Nach ständiger Rechtsprechung der europäischen Gerichte wird die Haftung der Konzernmutter bei 100%-igen Töchtern (und möglicherweise sogar bei Beteiligungen unter 100%) vermutet. Die Vermutung umfasst einerseits die Vermutung, dass die Mutter einen bestimmenden Einfluss ausüben kann und andererseits die Vermutung, dass sie diesen Einfluss tatsächlich ausübt. Die EU Kommission muss in diesen Fällen zunächst nur zeigen, dass eine 100%-ige Beteiligung besteht.
Obwohl diese weitreichende Haftungsvermutung nach der Rechtsprechung widerlegbar ist, war bislang unklar, wie sie widerlegt werden könnte. Die Rechtsprechung neigte in der Vergangenheit zu einer weiten Auslegung der Konzernhaftung. In einigen neuen Urteilen der europäischen Gerichte sind der beinahe uferlosen Haftungsvermutung nun einige formelle und materielle Schranken gezogen worden.
In Air Liquide (Urteil vom 16. 6. 2011 – T-185/06) hielt das EuG fest, dass die Kommission in ihrer an die Mutter adressierten Entscheidung jedenfalls auf die Gesichtspunkte einzugehen hat, auf die sich die Mutter unter Vorlage von Beweisen beruft und die zur Beurteilung der Selbständigkeit der Tochtergesellschaft nicht unerheblich sind. Insofern unterliegt die Kommission einer Begründungspflicht, um sowohl der Muttergesellschaft als auch den Gerichten eine Überprüfung der angefochtenen Entscheidung zu ermöglichen. Obwohl die Entscheidung (nur) wegen eines Begründungsmangels aufgehoben wurde, lässt sich dem Urteil eine Reihe von Gesichtspunkten entnehmen, welche jedenfalls grundsätzlich zur Widerlegung der Vermutung geeignet sind.
In Gosselin Group (Urteil vom 16. 6. 2011 – T-208/08; T-209/08) gelang der Mutter der Gegenbeweis zur Haftungsvermutung. Entscheidend war nach dem Urteil des EuG, dass in dem fraglichen Zeitraum des Kartellverstoßes keine Hauptversammlung und kein Aufsichtsratstreffen stattfinden, in denen die Mutter, eine Holding, Einfluss auf das Markverhalten der Tochter hätten nehmen können.
In Grolsch (Urteil vom 15. 9. 2011 – T-234/07) hob das EuG eine Entscheidung der Kommission ebenfalls wegen Begründungsmangels auf. Die Entscheidung der Kommission war an die Mutter gerichtet, unterschied aber nicht zwischen der Tochtergesellschaft, der alleine ein Kartellverstoß direkt nachgewiesen werden konnte, und der Mutter. Obwohl die Voraussetzungen der Haftungsvermutung (100%-Beteiligung) vorgelegen hätten, konnte sich die Kommission auf diese Vermutung nicht berufen, weil sie die Voraussetzungen in der Entscheidung nicht dargelegt hatte.
Der EuGH hob in Elf Aquitaine (Urteil vom 29. 9. 2011 – Rs. C-520/09 P; Rs. C-521/09 P) ein Urteil des EuG auf, welches Elf Aquitaine für wettbewerbswidrige Handlungen ihrer Tochtergesellschaft Atofina zur Mitverantwortung zog. Der EuGH entschied, dass weder die Kommission noch das EuG nicht hinreichend dargelegt hatte, warum die zur Widerlegung der Haftungsvermutung von der Mutter vorgelegten Beweise – wie die finanzielle und strategische Unabhängigkeit der Tochter, die Wahrnehmung Dritter oder die Weisungsungebundenheit – nicht ausreichend gewesen seien.
Die jüngsten Entwicklungen sind für Muttergesellschaften von enormer Bedeutung, weil sie die tatsächliche Möglichkeit eröffnen, die Vermutung der Einflussnahme auf eine Tochtergesellschaft zu widerlegen und so einem Bußgeld zu entgehen.