Kürzlich hat die Bundesregierung ihren Entwurf für ein Gesetz zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (RegE bzw. KapMuG-E) beschlossen (BR-Drucks. 851/11) und beabsichtigt damit das KapMuG dauerhaft in die deutsche Rechtsordnung zu implementieren.
Das KapMuG wurde im Jahr 2005 zunächst als „Experimentiergesetz“ mit einer Geltungsdauer von fünf Jahren geschaffen, um Massenverfahren zu bewältigen, in denen es eine Vielzahl vermeintlich geschädigter Anleger gibt, die oftmals nur einen geringen Schaden erlitten haben. Auch wenn der Bedarf für ein Instrument zur kollektiven Rechtsdurchsetzung schon längere Zeit diskutiert wurde, war letztlich das sog. Telekom-Verfahren und die damit einhergehende Überlastung des LG Frankfurt am Main Auslöser für die Schaffung des KapMuG. Denn in dem Verfahren haben zwischen 2001 und 2002 rund 17.000 Anleger wegen eines angeblich fehlerhaften Börsenprospekts im Zusammenhang mit dem dritten Börsengang Klage gegen die Deutsche Telekom AG eingereicht. Ziel des KapMuG war und ist es daher, gleichgerichtete Ansprüche von Anlegern zu bündeln und somit eine effektive Klärung kapitalmarktrechtlicher Streitigkeiten zu erreichen.
Während der zunächst fünfjährigen Laufzeit des KapMuG sollte geprüft werden, ob sich die vorgesehene Verfahrensbündelung in der Praxis bewährt und es sich somit um ein funktionsfähiges Modell der kollektiven Rechtsdurchsetzung handelt. Erfolgt ist diese Prüfung durch eine Evaluation, deren Abschlussbericht Ende 2009 veröffentlicht wurde. Um die Ergebnisse dieses Abschlussberichts hinreichend berücksichtigen zu können, wurde die Geltungsdauer des KapMuG nochmals um zwei Jahre bis zum 31. 10. 2012 verlängert. Der nunmehr veröffentlichte RegE greift zahlreiche Ergebnisse der Evaluation auf.
Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf Beratungsfehler
Der RegE sieht eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des KapMuG auf Rechtsstreitigkeiten vor, in denen Schadensersatzansprüche gegen einen Anlageberater oder -vermittler wegen Schlechterfüllung eines Beratungs- oder Auskunftsvertrags geltend gemacht oder die Grundsätze der sog. Prospekthaftung im weiteren Sinne gestützt werden. Anlass für diese (ausdrückliche) Erweiterung ist die ständige Rechtsprechung des BGH-Beschluss vom 16. 6. 2009 – XI ZB 33/08, DB 2009 S. 1591 wonach entsprechende Ansprüche de lege lata nicht vom Anwendungsbereich des KapMuG umfasst sind.
Beschleunigung des Verfahrens
Ein wesentliches Ziel des KapMuG war es, die kollektive Rechtsdurchsetzung zu beschleunigen. Betrachtet man allerdings laufende Musterverfahren, zeigt sich, dass dieses Ziel in der Praxis bislang nur bedingt erreicht wurde. So wird etwa in dem Telekom-Verfahren, das seit 2006 als Musterverfahren geführt wird, erst am 25. 4. 2012 der erste Musterentscheid des OLG Frankfurt am Main erwartet. Zudem gilt als gesichert, dass von der unterliegenden Seite Rechtsbeschwerde beim BGH gegen den Musterentscheid eingelegt werden wird und das Musterverfahren damit weiterhin andauern wird.
Mit dem vorliegenden RegE soll daher ein erneuter Versuch unternommen werden, die Dauer des Verfahrens weiter zu verkürzen. Der Abschlussbericht zur Evaluation führt im Zusammenhang mit der Verfahrensdauer u. a. aus, dass in der Praxis zwischen der Antragstellung und der Entscheidung über die Zulässigkeit des Musterfeststellungsantrags sowie dessen Bekanntmachung oft lange Zeiträume liegen. Nach dem RegE soll das Prozessgericht daher zukünftig innerhalb eines gesetzlich vorgegebenen Zeitraums von drei Monaten nach Eingang des Antrags über die Zulässigkeit des Musterverfahrensanstrags entscheiden. Überschreitet das Gericht im Einzelfall diese Frist, hat es die Verzögerung wie im aktienrechtlichen Freigabeverfahren (vgl. § 246a Abs. 6 AktG) durch unanfechtbaren Beschluss zu begründen. Darüber hinaus werden zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung zukünftig Beschlüsse des Prozessgerichts, in denen Musterverfahrensanträge als unzulässig verworfen oder wegen Nichterreichens des Quorums zurückgewiesen werden, für unanfechtbar erklärt.
Erleichterung eines Vergleichsabschlusses im Musterverfahren
Einen Schwerpunkt des RegE, der auf die Ergebnisse des Abschlussberichts zurückgeht und aus Sicht der Praxis sehr interessant ist, stellt der Vorschlag dar, den Vergleichsabschluss im Musterverfahren zu vereinfachen. Nach derzeitiger Gesetzeslage ist der Abschluss eines Vergleichs praktisch nahezu unmöglich, da sämtliche Beteiligten (Musterkläger, -beklagte und alle Beigeladenen) einer entsprechenden Verfahrensbeendigung zustimmen müssten. Vorbild für den vereinfachten Vergleichsabschluss ist ein niederländisches Regelungsmodell, nach dem ein Vergleich gerichtlich gebilligt wird und eine Austrittsmöglichkeit (Opt-out) für bestimmte Beteiligte besteht.
Der vorgesehene Verfahrensablauf für einen Vergleich stellt sich vereinfacht wie folgt dar: Zunächst einigen sich der Musterkläger und die Musterbeklagten – ggf. nach entsprechendem Vorschlag des Gerichts – auf einen Vergleich zur Beendigung sowohl des Musterverfahrens als auch der bei den Prozessgerichten geführten Ausgangsverfahren. Der Vergleich soll insbesondere Angaben über die Verteilung der zugesagten Leistung, den zu erbringenden Berechtigungsnachweis, die Fälligkeit der Leistungen sowie eine Kostenregelung enthalten. Im Gegensatz zum Referentenentwurf stellen diese Inhalte jedoch keine Mindestvoraussetzungen für einen Vergleich dar. Im Ergebnis können der Musterkläger und die Musterbeklagte daher frei über den Vergleichsinhalt disponieren und z. B. auch die Wirksamkeit des Vergleichs unter die (auflösende) Bedingung des Erreichens eines Mindestquorums stellen. Die Beigeladenen können anschließend zu dem Vergleichsvorschlag Stellung nehmen. Danach prüft das Gericht, ob es sich bei dem Vergleich um eine angemessene Lösung handelt und die Interessen der Beteiligten ausreichend gewahrt sind. Sofern das Gericht hiervon überzeugt ist, genehmigt es den Vergleich durch unanfechtbaren Beschluss, der nicht mehr durch den Musterkläger oder die Musterbeklagte widerrufen werden kann. Im Gegensatz dazu besteht für die Beigeladenden die Möglichkeit, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Vergleichs ihren Austritt zu erklären und danach ihr Ausgangsverfahren als „normale“ zivilrechtliche Streitigkeit vor dem Prozessgericht weiterzuführen. Der Vergleich beendet das Musterverfahren und wirkt nach Ablauf der Austrittsfrist für und gegen alle Beteiligten, sofern diese nicht ihren Austritt erklärt haben. Die Ausgangsverfahren werden anschließend durch einen Beschluss des Prozessgerichts beendet.
Die Grundidee, die Verfahrensbeendigung durch Vergleich zu vereinfachen, ist zwar grundsätzlich zu begrüßen. Im Ergebnis ist jedoch fraglich, ob sich eine Musterbeklagte auf einen Vergleich einlassen würde, wenn nicht sichergestellt ist, dass alle Beteiligten an den Vergleich gebunden sind. Dies gilt insbesondere, wenn aufgrund streitigen Sachverhalts die Gefahr besteht, dass nach einer bereits im Musterverfahren erfolgten Beweisaufnahme in einzelnen Ausgangsverfahren erneut zeit- und kostenintensive Beweisaufnahmen durchgeführt werden müssen. Nach der neuen Regelung kann die Musterbeklagte die Bindung aller Beteiligter an den Vergleich nur durch die Vereinbarung eines Mindestquorums i. H. von 100% erreichen. Ein entsprechendes Quorum entspricht jedoch faktisch der derzeitigen gesetzlichen Regelung, wonach alle Beteiligten einem Vergleich zustimmen müssen. Die praktische Relevanz des angedachten Vergleichsmodells sowie die damit bezweckte Vereinfachung des Vergleichsabschlusses erscheinen vor diesem Hintergrund eher zweifelhaft.
Neuregelungen gelten regelmäßig nicht für laufende Musterverfahren
Im Gegensatz zum Referentenentwurf enthält der RegE erstmals eine Übergangsregelung. Danach soll das KapMuG-E insgesamt keine Anwendung finden auf Verfahren, in denen bereits vor dem Inkrafttreten des KapMuG-E mündlich verhandelt worden ist. Diese Einschränkung mag auf den ersten Blick verwundern, da sie zugleich bedeutet, dass etwa die vorgeschlagene Vergleichsregelung, die eine Verfahrensbeendigung im Wege des Vergleichs erst praktikabel erscheinen lässt, in bereits laufenden Verfahren wie dem Telekom-Prozess keine Anwendung findet. D. h. in diesem Fall wäre für einen möglichen Vergleich weiterhin die Zustimmung sämtlicher Beteiligter notwendig. Im Ergebnis ist die Übergangsregelung jedoch zu begrüßen, weil sie ausschließt, dass aufgrund des erweiterten Anwendungsbereichs und der Möglichkeit, mehrere Musterbeklagte in ein Musterverfahren einzubeziehen, neue Beteiligte in das laufende Verfahren einbezogen werden müssen und weitere Musterbeklagte zu beteiligen sind.
Das Bestreben des Gesetzgebers, das KapMuG dauerhaft in die Rechtsordnung zu implementieren und weiterzuentwickeln ist zu begrüßen. Wie die Ergebnisse des Abschlussberichts zur Evaluation sowie die praktische Erfahrung mit dem KapMuG jedoch zeigen, lassen sich die Ziele des KapMuG jedenfalls de lege lata nur schwer erreichen. Insoweit bleibt abzuwarten, ob die punktuelle Weiterentwicklung tatsächlich zu einer Verbesserung der nationalen Verfahrensordnung zur kollektiven Rechtsdurchsetzung beiträgt. Sollte der europäische Gesetzgeber sich darüber hinaus dazu entschließen, ein europäisches Instrument horizontaler kollektiver Rechtsdurchsetzung zu schaffen, wird sich die spannende Frage stellen, wie die möglichen europäischen Regelungen zukünftig mit dem KapMuG in Einklang zu bringen sind.