Selbstständige in der Insolvenz – Gestaltungsspielraum durch Freigabe ihrer Tätigkeit

RA Stephan Ries, Insolvenzverwalter, Schultze & Braun, Wuppertal

Wer bisher schon beruflich selbstständig gewesen ist oder es künftig sein möchte, aber derzeit ein persönliches Insolvenz­verfahren durchläuft, hat oftmals keine andere Wahl: zur künftigen Sicherung der eigenen Existenz, d. h. zur Beschaffung notwendiger Einnahmen, aber auch zur Erlangung der Wohltat einer Restschuldbefreiung, muss er weiterhin beruflich aktiv sein. Insoweit obliegt es dem Schuldner, durch angemessene Anstren­gungen der Insol­ven­zmasse pfändbare Beträge zuzuführen. Hierzu bieten sich in der wirtschaftlichen Krise sichere neue Berufsperspektiven in fester Anstellung als abhängig Beschäftigter eher selten. Das klassische Existenzsicherungskonzept der Zivil­pro­zess­­ordnung gibt zwar für insolvent gewordene Arbeitnehmer eine feste Orientierung  mittels klar definierter Tabellenwerte (§ 850c ZPO). Bei beruflich selbstständigen Personen  wird es dagegen schwierig (§ 850i ZPO). Mit Beschluss vom 20. 3. 2003 – IX ZB 388/02, DB 2003 S. 1507 hatte der BGH festgestellt, der Insolvenzbeschlag erfasse sehr weitgehend alle bereits entstandenen wie auch künftigen Einnahmen, insbesondere sämtliche Forderungen des Schuldners gegenüber Dritten. Diese fallen somit ohne Abzug voll in die Masse. Zur Erlangung eines existenzsichernden Pfändungsschutzes muss der Schuldner einen gesonderten Antrag stellen und diesen sachgerecht begründen. Das Gesetz spricht insoweit von „freier Schätzung des Gerichts“, also letztlich von einer Frage richtiger Ermessens­be­tätigung.

Diese Betrachtung schürte nicht nur Ängste bei beruflich selbstständig tätigen Schuldnern, sondern auch bei deren Insolvenzverwaltern. Mit ihrem Recht auf Erstzugriff auf sämtliche Einnahmen war zugleich die Verpflichtung verbunden, im Betrieb des Schuldners für alle laufenden berufs­bedingten Ausgaben einstehen und schlim­mstenfalls für betriebswirtschaftliche Fehl­kalkulationen persönlich haften zu müssen (§§ 60, 61 InsO). Bei unzu­reichenden Einnahmen konnten unrentable Betriebs­fort­führungen somit für den Verwalter sehr schnell zu einem wahren Alptraum werden.

Der Gesetzgeber sah frühzeitig diese widerstreitende Interessenlage. Er änderte § 35 InsO für Insolvenzverfahren, die ab dem 1. 7. 2007 neu eröffnet wurden, und gestattete den Verwaltern, dass sie beruflich selbstständige Betäti­gungen den Schuldnern komplett zu deren freier Verfügung überlassen. Die beruflich selbstständigen Aktivitäten werden durch eine Freigabe­erklärung vollständig aus dem Insolvenzverfahren herausgelöst. Im Gegenzug müssen die Schuldner allerdings  – insoweit den Arbeitnehmern vergleichbar – Beträge in die Masse entrichten, die den Pfändungsschranken entsprechen, welche bei einem vergleichbaren Einkommen in beruflicher Abhängigkeit (Festan­stellung) gelten würden.

An diese Neuregelung schloss sich die – im eigentlichen Gesetzeswortlaut nicht eindeutig geregelte – Anschlussfrage an, ob damit auch Dauer­schuldverhältnisse i. S. von § 108 InsO (also Geschäftsraummietverträge und Arbeitsverhältnisse) wieder auf den Schuldner zurückfallen oder ob diese noch beim Verwalter in der Masse verbleiben, der sie alsdann kündigen müsste – mit dem daran hängenden Risiko, dass überhaupt erst durch diese Kündigung dem Schuldner wichtige Vertragspartner verloren gehen und er nicht mehr an Ort und Stelle weiterarbeiten kann, während die Masse noch mit unrentablen Auslaufverbindlichkeiten belastet bleibt.

Diese Grundsatzfrage hat der BGH nunmehr durch Urteil vom 9. 2. 2012 – IX ZR 75/11, DB 2012 S. 628 – weitgehend gestützt auf die Motive des Gesetzgebers zur Ver­fahrens­erleichterung – geklärt. Die auf die selbstständige Tätigkeit bezogenen vertraglichen Ansprüche der Gläubiger, soweit sie nach dem Zugang der Freigabeerklärung des Verwalters beim Schuldner entstehen, können nicht gegen die Masse verfolgt und von den betroffenen Gläubigern nur noch beim Schuldner erhoben werden. Das bewirkt, dass die Masse keine übermäßigen Risiken und der Schuldner keine existenzvernichtenden Eingriffe des Ver­walters mehr befürchten muss. Dem Schuldner bleibt lediglich auferlegt, sich in dem Maße aktiv in die Schuldenbereinigung einzubringen, wie man es auch einem abhängig beschäftigten Arbeitnehmer vergleichbar abverlangen würde.

Obwohl es im konkreten Fall für die Entscheidung unerheblich war, beantwortet das BGH-Urteil zudem eine weitere Grundsatzfrage: Wenn die der Masse aufoktroyierten Verbind­lichkeiten ausschließlich die auslaufende Kündi­gungs­phase betreffen, in der der Insolvenzverwalter nach § 108 InsO ohnehin noch an den Vertrag gebunden blieb, trifft ihn insoweit keine Schadensersatzpflicht, mag er nach Verfahrenseröffnung auch die Kündigung eines vom Schuldner begründeten Dauerschuldverhältnisses versäumt haben.

Der BGH verwirklicht mit dieser Entscheidung das angestrebte Ziel des Gesetzgebers, in Insolvenzverfahren natürlicher Personen die Abwicklung spürbar zu erleichtern, wesentliche Haftungsrisiken von der Masse zu nehmen und durch die pfändungsrechtliche Gleichstellungslösung mit Arbeitnehmern eine klare Richtschnur vorzugeben. Die Entscheidung ist uneingeschränkt zu begrüßen. Den Schuldnern ist jedoch dringend zu raten, während eines laufenden Verfahrens wirklich nur solche Tätigkeiten auszuüben, die einträglich sind und ihnen keine neuen Verluste bescheren. Denn von Neuverbindlichkeiten befreit sie das laufende Insolvenz­verfahren nicht (§ 38 InsO). Anderenfalls bliebe das Darben unter den Pfändungsbeschränkungen des Erstverfahrens weitgehend vergeblich (zur Möglichkeit einer Zweitinsol­venz wegen zwischenzeitlicher Neuverbindlichkeiten s. BGH-Beschluss vom 9. 6. 2011 – IX ZB 175/10, DB 2011 S. 1690).

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