Streik im öffentlichen Dienst und „Drittbetroffenheit“: Die Städte machen ein Geschäft

Es ist wieder Streikzeit im öffentlichen Dienst. Ganz gleich ob man mit der einen oder anderen Seite sympa­thi­siert, ist sicher: Die Hauptleidtragenden sind diejenigen, die von den bestreikten öf­fent­lichen Unternehmen abhängig sind, weil sie deren Dienste nut­zen wollen. Denn sie bekommen das, was ihnen versprochen wurde (und was sie zum Teil dort „bestellen“ mussten!), nicht oder jedenfalls nicht zum vereinbarten Zeitpunkt. Und um deren Rechts­stellung soll es daher im Folgenden gehen.

Rela­tiv einfach ist insoweit die Situation beim produzierenden Ge­werbe; sie soll daher – auch wenn dort momentan nicht gestreikt wird – vorab in Erinnerung gerufen werden. Wird ein Auto­mobilhersteller bestreikt und kann die be­stell­ten Autos nicht liefern, erhält es von den Käufern (selbst­verständlich) auch kein Geld. Das wird manchen Käufern aber nicht reichen, denn sie werden zumindest in vielen Fällen infolge der Nicht- oder verzögerten Lieferung auch Schäden haben. Für sie stellt sich daher die Frage nach Schadenersatzansprüchen. Die aber setzen nach deutschem Recht Verschulden voraus, und das wird für streik­bedingte Lieferausfälle oder -verzögerungen ähnlich wie bei höherer Gewalt überwiegend verneint. Mindestens aber werden Allgemeine Geschäftsbedingungen, die für diese Fälle eine Schadenersatzhaftung ausschließen, den Abnehmer nicht „unangemessen benachteiligen“ und deshalb etwaige Schadenersatzansprüche wirksam ausschließen.

Deutlich komplizierter aber liegen die Dinge bei den meisten Lei­stungen, die von den jetzt bestreikten öffentlichen Unternehmen erbracht werden. Denn ihr Tätigkeitsschwerpunkt liegt nicht in der Produktion von Waren, sondern in der Erbringung von Dienstleistun­gen, sei es in der Kinderbetreuung (Kindergärten), der Erbringung von Transportleistungen (Verkehrsbetriebe) oder in der Ab­fallbeseitigung (Müllabfuhr/Straßenreinigung). Und diese Leistun­gen werden zum zweiten häufig nicht auf der Grundlage privater Ver­träge, sondern auf der Basis öffentlich-rechtlicher Satzungen erbracht.

Wenden wir uns zunächst den Besonderheiten der Dienstleistungen zu. Zwar werden Dienstleistungen nach moderner wirtschafts­wissenschaft­licher Auffassung weitgehend wie Produkte behandelt, und man spricht von der „Produktion“ von Dienstleistungen oder vom „Dienstleistungs-Marketing“. Doch juristisch ist diese weitgehende Annäherung bislang erst kaum nachvollzogen worden. Und deshalb bereitet es bei Dienst­lei­stungen schon erhebliche Schwierigkeiten festzulegen, ob sie nicht oder nur verzögert erbracht wurden. Diese Unterscheidung aber ist, wie wir zuvor gesehen haben, von eminenter Bedeutung: Denn aus der Nicht-Lei­stung folgt grundsätzlich das Entfallen der Zah­lungs­pflicht (§ 326 Abs. 1 BGB), aus der verzögerten Leistung (nur) eine ver­schuldensabhängige – und damit zu verneinende – Schadener­satz­pflicht. Wann aber wurde die Betreuungsleistung seitens des Kindergartens, die Transportleistung seitens der Verkehrsbetriebe oder die Abfallbeseitigung seitens der Müllabfuhr „nicht“ erbracht? Ist dies schon dann der Fall, wenn der Kindergarten morgens geschlossen ist, oder wenn die Müllabfuhr am vereinbarten Termin nicht kommt? Zweifel kommen gerade beim Müll deshalb auf, weil und wenn der liegengebliebene Müll eine Woche später doch noch mit­genommen wurde. Rechtlich wie wirtschaftlich ist aber die Frage, ob dies noch die „geschuldete Leistung“ ist: Denn wenn der nach Fahrplan um 6.10 Uhr abfahrende Bus erst um 10.10 Uhr abfährt, mag das zwar ein Bus sein, es ist aber nicht mehr „der um 6.10 Uhr“. Und bei der Müllabfuhr liegen die Dinge spätestens dann genauso, wenn die Kalenderwoche abgelaufen ist, in der die Abfuhr erfolgen sollte. Es ist nicht anders, als wenn jemand diese Zeitschrift erst eine Woche nach dem Erscheinen auf seinem Schreibtisch vorfände. Rechtlich wird diese Lage als „absolutes Fixgeschäft“ bezeichnet: Die vereinbarte Leistung kann nur zu einem bestimmten Zeitpunkt oder während eines bestimmten Zeitraums vertragsgemäß erbracht werden. Danach wird nicht mehr dieselbe Leistung (verzögert), sondern eine andere Lei­stung erbracht. Und das bedeutet, dass für die nicht erbrachte Leistung im Rechtssinne Unmöglichkeit eintritt und die Zahlungs­pflicht entfällt. Die Dinge liegen nicht anders als beim Arbeitneh­mer (etwa dem Putzmann oder der Putzfrau), der einen Tag „blau“ macht: Solange er für die an einem bestimmten Tag erbrachte Leistung bezahlt wird, kann er sich nicht darauf berufen, er habe die liegengebliebene Arbeit am nächsten Tag erledigt.

Das grundsätzliche Entfallen der Zahlungspflicht für die nicht er­brachten Dienstleistungen hat aber – und hier liegt das nächste Problem – meist nur geringe Folgen. Denn soweit die Leistungen individuell honoriert werden (Einzelfahrschein in öffentlichen Ver­kehrsmitteln), werden entsprechende Verträge im Falle eines Streiks naturgemäß gar nicht erst geschlossen. Anders liegen die Dinge freilich für – wie hier – im voraus bezahlte Leistungen, wie dies für den öffentlichen Nahverkehr in Form von Zeitkarten, die Abfallbeseitigung in Form der typischerweise quartalsweise gezahlten Gebühren und für die Kindergartennutzung in Form monatlicher Zahlungen üblich ist. Hier entfällt die Zahlungspflicht zwar grund­sätzlich für den Zeitraum der Nicht-Leistung. Doch – und damit drängen sich die nächsten Fragen auf – wie soll man den entsprechen­den Minderwert der Leistung berechnen? Und zum anderen: Wie soll man seine Ansprüche bezüglich der typischerweise beim Einzelnen nur ge­ringen Rückforderungsbeträge durchsetzen? Das Fehlen eines In­stru­mentariums zur kollek­tiven Rechtsdurchsetzung („Sammelklage“) zwingt hier in die Einzelklage mit im Einzelfall nur sehr geringen Streitwerten.

Leider verkomplizieren sich die Dinge weiter dadurch, dass die öf­fent­lichen Dienstleistungsunternehmen typischerweise Allgemeine Ge­schäftsbedingungen (so bei den Verkehrsunternehmen) oder Satzungen (so im Bereich der Abfallbeseitigung) haben, die „Ansprüche wegen nicht erbrachter Leistungen“ ausschließen. In gewöhnlichen Allgemei­nen Geschäftsbedingungen dürfte eine solche Klausel, die das für das deutsche Zivilrecht zentrale Gegenleistungsprinzip außer Kraft setzt, ganz sicher unwirksam sein. Daher bleibt insoweit nur der Einwand, dass es „doch eigentlich nur um Kleinstbeträge“ gehe, und man einen Aus­schluss etwaiger Rechte mit dieser Begründung rechtfertigen könne. Nur: Ganz ähnlich wie bei der Frage der prozessualen Durchsetzung kommt es hier auf die Perspektive an. Auch wenn die Ansprüche des Einzelnen gering sind, machen sie doch angesichts der großen Zahl Betroffener eine erkleckliche Summe aus – das gerade macht ein Be­streiken der öffentlichen Dienstleistungsbetriebe so attraktiv.

Noch komplizierter liegen die Dinge dort, wo Leistung und Entgelt öffentlich-rechtlich, also insbesondere durch Satzung, geregelt sind. Denn das AGB-Recht gilt nach seinem Wortlaut für derartige Satzungen nicht. Und die ihm zugrundeliegenden Prinzipien werden im öffentlichen Recht nur wesentlich grober aus der Verfassung unmit­tel­bar abgeleitet. Im Ergebnis kann allerdings auch hier nichts anderes gelten: Denn es wäre ein vor dem Hintergrund des unmittel­baren Wettbewerbs zwischen privaten und öffentlichen Entsorgern kaum mit dem Gleichbehand­lungsgrundsatz zu vereinbarender Widerspruch, könnten die einen nicht erbrachte Leistungen berechnen, während die anderen erhaltene Gebühren oder Entgelte zurückzahlen müssten. Eine entsprechende Satzungsbestimmung dürfte daher ebenso unwirksam sein wie eine AGB-Klausel, die eine Zahlungspflicht trotz unterbliebener Leistung festschreiben will.

Das bedeutet: Im Grundsatz entfällt die Zahlungspflicht für die infolge Streiks nicht erbrachten (öffentlichen) Leistungen. Die Durchsetzung etwaiger Rückzahlungsansprüche kann aber auf unüber­windliche Hindernisse stoßen. Und das ist vielleicht sogar beabsich­tigt: Denn es führt zu dem merkwürdigen Ergebnis, dass öffent­liche Dienstleistungsunternehmen die Löhne für ihre Arbeitnehmer streik­bedingt nicht zahlen müssen, während sie gleichzeitig die dafür vereinbarten, aber nicht mehr geschul­de­ten Entgelte und Gebühren weiter berechnen und kassieren. Für die bestreikten öffentlichen Unternehmen werden Streiks damit (fast) zu einem Nullsummenspiel: Nicht sie zahlen die Zeche, sondern ausschließlich deren Abnehmer. Anders ist die Lage nur und erst dann, wenn aus den „freiwerdenden Mitteln“ Ersatzaufträge finanziert werden; das ist aber die Ausnahme.

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