BGH äußert sich zum Oligopol auf dem deutschen Tankstellenmarkt

RA Dr. Thorsten Mäger, Partner, Hengeler Müller, Düsseldorf

In einer Entscheidung vom 6. 12. 2011 – KVR 95/10, DB0479373, die erst jetzt veröffentlicht wurde, neigt der BGH der Auffassung des Bundeskartellamtes („BKartA“) zu, dass der Tankstellenmarkt in Deutschland von einem Oligopol beherrscht wird, das aus den fünf großen Betreibern besteht, also BP/Aral, Shell, ExxonMobil/Esso, Total und ConocoPhillips/Jet. Ein marktbeherrschendes Oligopol ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Mitglieder des Oligopols untereinander keinen Wettbewerb machen (kein Binnenwettbewerb) und die übrigen Konkurrenten auf dem Markt zu schwach sind, um ausreichenden Wettbewerbsdruck auszuüben (kein Außenwettbewerb). Diese Einschätzung des Tankstellenmarktes dürfte den Beifall vieler Kommentatoren aus Politik und Medien finden, die sich regelmäßig zur Entwicklung der Kraftstoffpreise in Deutschland äußern. Betrachtet man die Gerichtsentscheidung jedoch näher, ergeben sich offene Fragen.

In dem Fall ging es darum, dass Total beabsichtigte, 59 Tankstellenbetriebe in Sachsen und Thüringen von OMV zu erwerben. Dieses Vorhaben wurde vom BKartA (Beschluss vom 29. 4. 2009 – B8-175/08, WuW 2009 S. 835) untersagt, weil die eingangs genannten fünf großen Tankstellenbetreiber auf den Tankstellenmärkten in Deutschland ein marktbeherrschendes Oligopol bildeten. Jeder Zuerwerb durch eines der Oligopol-Mitglieder (hier: Total) führe zu einer Verstärkung der bereits bestehenden marktbeherrschenden Stellung, was zu untersagen sei.

Gegen die Untersagung sind die Unternehmen gerichtlich vorgegangen. Das OLG Düsseldorf hat die Untersagung mit Be­schluss vom 4. 8. 2010 – IV-2 Kart 6/09 (V), WuW 2010 S. 1066 aufgehoben. Aufgrund der Preisschwankungen ging das Gericht davon aus, dass zwischen den vermeintlichen Oligopol-Mitgliedern Wettbewerb herrscht. In diesem Fall können die Wettbewerber im Rahmen der kartellrechtlichen Prüfung nicht „zusammengezählt“ und wie ein einziges – dann marktbeherrschendes – Unternehmen behandelt werden. Vielmehr muss jedes Unternehmen einzeln betrachtet werden. Da Total auf keinem der betroffenen Tankstellenmärkte für sich gesehen einzelmarktbeherrschend war und in diese Position auch nicht durch den Zuerwerb der OMV-Tankstellen hineinwuchs, verneinte das Gericht einen Untersagungsgrund. Der BGH ist dem OLG Düsseldorf nicht gefolgt, sondern hat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OLG Düsseldorf zurückverwiesen, und zwar mit Hinweisen, die eine klare Sympathie für die Auffassung des BKartA, es liege ein Oligopol vor, erkennen lassen.

Eine beständige Ansicht des BKartA, ob und in welcher Form ein Oligopol auf den Kraftstoffmärkten vorliegt gibt es allerdings nicht, wie ein Blick in die Behördenpraxis zeigt. Im Jahr 2001 hat das BKartA die großen Zusammenschlüsse BP/Aral und Shell/Dea freigegeben. Dazu mussten die Unternehmen allerdings Tankstellen in einer so großen Anzahl veräußern, dass ihr gemeinsamer Marktanteil die Schwelle von 50% unterschritten hat. Andernfalls hätte das BKartA ein 3er-Oligopol der führenden Anbieter BP/Aral, Shell/Dea und Esso angenommen und die Zuerwerbe wären untersagt worden. Die kritische Schwelle von 50% ergab sich dabei nicht unmittelbar aus einer ökonomischen Analyse des Kraftstoffmarktes in Deutschland. Vielmehr hat das BKartA auf eine gesetzliche Vermutung des deutschen Kartellrechts zurückgegriffen. Diese (widerlegliche) Vermutung, die für sämtliche Produkt- und Dienstleistungsmärkte gilt, greift ein, wenn die drei führenden Anbieter auf dem relevanten Markt zusammen einen Anteil von 50% oder mehr erreichen. Sie gelten dann als marktbeherrschend. BP/Aral, Shell/Dea und Esso hätten einen Marktanteil von ca. 60% erreicht. Dieser musste deshalb auf unter 50% abgeschmolzen werden. Durch den Abverkauf der Tankstellen wurde aus Sicht des BKartA im Jahre 2001 eine marktbeherrschende Stellung des 3er-Oligopols verhindert.

In dem hier diskutierten Fall hat das BKartA seine Bewertung der Wettbewerbsverhältnisse auf dem Tankstellenmarkt verändert. Bei Anwendung der alten Betrachtungsweise hätte der Zuerwerb der OMV-Tankstellen durch Total nicht untersagt werden können. Denn die führenden drei Anbieter BP/Aral, Shell/Dea und Esso lagen nach wie vor unter der Vermutungsschwelle von 50% und Total wurde nicht als Teil des Oligopols angesehen. Das BKartA ist jetzt jedoch nicht mehr von einem 3er-Oligopol, sondern von einem 5er-Oligopol ausgegangen, das zusätzlich aus Total und ConocoPhillips/Jet bestehe. Damit musste sich Total den gesamten Marktanteil des neuen 5er-Oligopols zurechnen lassen (insgesamt über 70%). Der Zuerwerb der OMV-Tankstellen war deshalb zu untersagen, weil die bereits bestehende marktbeherrschende Stellung des Oligopols verstärkt worden wäre. Die These vom 5er-Oligopol hat das BKartA auch in ihrem Abschlussbericht zur sog. Sektoruntersuchung Kraftstoffe vertreten, deren Ergebnisse im Mai 2011 veröffentlicht wurde.

Marktverhältnisse mögen sich über die Jahre ändern. Zu den Aufgaben des BKartA gehört es, die aktuellen Wettbewerbsbedingungen zu ermitteln und der eigenen Analyse jeweils zugrunde zu legen. Ob sich die Verhältnisse des Tankstellenmarktes seit 2001 tatsächlich grundlegend geändert haben, ist allerdings zumindest zweifelhaft. Jedenfalls ist der Umgang von BKartA und Kartellgerichten mit ökonomischen Fragen bemerkenswert. Ein Beispiel: In den Entscheidungen BP/Aral und Shell/Dea (2001) ließ das BKartA ausdrücklich offen, ob von einem nationalen Markt oder von regionalen Märkten auszugehen ist (wobei den Überlegungen zu einem deutschlandweiten Markt nicht die Erwartung zugrunde lag, dass ein Kraftfahrer in München sein Auto auch in Hamburg betanken könne; es ging vielmehr darum, ob sich Preisänderungen, die von einer Tankstelle ausgehen, im Rahmen von Kettensubstitutionseffekten wellenartig über ganz Deutschland ausbreiten, sodass die Marktverhältnisse einheitlich sind). Einen deutschlandweiten Markt hat das BKartA seinerzeit nach einer viermonatigen Untersuchung zumindest für gut möglich gehalten. In der Entscheidung Total/OMV hat das BKartA demgegenüber Regionalmärkte angenommen (im konkreten Fall ging es um Chemnitz, Dresden, Erfurt und Leipzig). Das OLG Düsseldorf und der BGH haben das – von den Unternehmen vorgebrachte – Argument der Kettensubstitutionseffekte mit einem kurzen Hinweis auf die „allgemeine Lebenserfahrung“ abgetan, wonach es erhebliche regionale Preisunterschiede geben könne.

Ein anderes Beispiel. Bei der Abgrenzung der Regionalmärkte hat das BKartA sämtliche Tankstellen zusammengefasst, die innerhalb von 30 Fahrminuten vom jeweiligen geographischen Ortsmittelpunkt erreichbar sind. OLG Düsseldorf und BGH stellen fest, dass das BKartA zwar nicht näher begründet habe, warum gerade auf 30 Minuten Fahrzeit abzustellen sei. Den Gerichten genügt es aber, dass der Ansatz des BKartA „nicht willkürlich“ sei.

Vertieft befassten sich die Gerichte demgegenüber mit dem Aspekt, dass sich nach Preisanhebungen, die typischerweise von Aral oder Shell ausgehen, das höhere Preisniveau nicht dauerhaft etablieren kann, sondern regelmäßig wieder auf das Ausgangsniveau absinke. Dies passt nach Auffassung des OLG Düsseldorf nicht zu einem wettbewerbslosen Oligopol. Der BGH ist anderer Auffassung. Insbesondere bei fallenden Rohstoffpreisen könne auch in einem marktbeherrschenden Oligopol für den einzelnen Oligopolisten ein Anreiz bestehen, den Preis im gewissen Umfang zu senken, um den eigenen Gewinn durch Absatz größerer Mengen zu steigern.

Diese gegenläufigen ökonomischen Wertungen sollen hier nicht diskutiert werden. Interessant ist aber folgender grundsätzliche Aspekt. Die Würdigung der Marktverhältnisse ist an sich eine ausschließliche Aufgabe des Tatrichters, d. h. im konkreten Fall des OLG Düsseldorf. Der BGH darf die Entscheidung des OLG Düsseldorf zwar insbesondere daraufhin überprüfen, ob gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungsschätze verstoßen wurde. Hierzu gehören auch die anerkannten Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie. Die uneinheitliche Behörden- und Gerichtspraxis macht aber sehr eindrucksvoll deutlich, dass es für Behörden und Gerichte nicht einfach ist, ihre Entscheidungen durch „anerkannte Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie“ abzusichern. In der Tat ist in der Ökonomie die Meinungsvielfalt oft nicht geringer als in der Juristerei. In großen Fusionskontrollverfahren gelingt es den Parteien jedenfalls häufig, für ihre gegensätzlichen Positionen Unterstützung durch namhafte Ökonomen als Sachverständige zu gewinnen.

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