Das BAG hatte sich in seiner Entscheidung vom 7. 8. 2012 – 9 AZR 353/10 primär mit der Frage zu befassen, ob im ruhenden Arbeitsverhältnis Urlaubsansprüche entstehen können. Konkret ruhte der Vertrag aufgrund einer tariflichen Regelung während des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente. Während des Ruhens sind die Hauptleistungspflichten (Entgeltzahlung und Arbeitsleistung) suspendiert, nicht aber die Nebenpflichten. Das BAG hat die umstrittene Frage, ob in der Phase des Ruhens dennoch Urlaubsansprüche entstehen, bejaht. Allein dieser Teil der Entscheidung ist schon bemerkenswert.
Die Musik spielt aber eigentlich an anderer Stelle: Das BAG hat eine unbegrenzte Ansammlung von Urlaubsansprüchen Langzeiterkrankter, die derzeit Unternehmen zu hohen Rückstellungen zwingt, beseitigt und einen generellen Verfall 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres etabliert – eine kleine Sensation.
In der Pressemitteilung liest sich dies so: „Bei langjährig arbeitsunfähigen Arbeitnehmern ist § 7 Abs. 3 Satz 3 des Bundesurlaubsgesetzes (BUrlG), wonach im Fall der Übertragung der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden muss, unionsrechtskonform so auszulegen, dass der Urlaubsanspruch 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfällt.“
Was war geschehen? Der EuGH hat in den letzten Jahren die Rechtsprechung zum deutschen Urlaubsrecht ordentlich durcheinandergebracht. Und das BAG konnte nur noch reagieren statt agieren.
Nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG verfielen eigentlich Urlaubsansprüche in Deutschland spätestens drei Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, also z. B. der Urlaub 2011 zum 31. 3. 2012. Was war nun aber mit Arbeitnehmern, die den Urlaub nicht nehmen konnten, weil sie während des gesamten Jahres und über das erste Quartal des Folgejahres hinaus ununterbrochen arbeitsunfähig waren? Das BAG blieb bei der einfachen Lösung: Er verfällt ebenfalls drei Monate nach Ende des Kalenderjahres.
Nun durfte der EuGH diese Konstellation im Jahre 2009 in der viel beachteten „Schultz-Hoff-Entscheidung“ beurteilen und hat einen Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubes mit Ablauf des ersten Quartals des Folgejahres bei Langzeiterkrankten als europarechtswidrig bewertet. Das BAG setzte diese Entscheidung um und übertrug dieses Ergebnis auch auf den übergesetzlichen Urlaub bei Fehlen einer Sonderregelung. § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG sei in Einklang mit dem Europarecht so zu verstehen, dass er nicht für langzeiterkrankte Arbeitnehmer gelte. Leidtragende waren die deutschen Unternehmen, deren bisherige sog. „Karteileichen“ von einem auf den anderen Tag zu massiven finanziellen Belastungen führten, die Rückstellungen erforderlich gemacht haben. Offene Urlaubsansprüche von plötzlich 150 Arbeitstagen und mehr waren keine Seltenheit.
Der Aufruhr in der Fachwelt war groß. Die Abgeltung von über Jahre angesammelten Urlaubsansprüchen konnten nun bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses klageweise geltend gemacht werden. Auch bei einvernehmlichen Beendigungen des Arbeitsverhältnisses bestand durch diese Rechtsprechung das Problem erheblicher finanzieller Ansprüche. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Arbeitnehmer, die langzeiterkrankt waren und keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung mehr hatten, häufig nicht gekündigt, da kein finanzielles Risiko bestand und den Arbeitnehmern daher ohne Risiko die Gelegenheit gegeben werden konnte, sich zu regenerieren und u. U. erst nach mehrjährigen Ausfallzeiten zurückzukehren. Dies war in Umsetzung der EuGH-Entscheidung nun mit einer erheblichen finanziellen Belastung verbunden, weshalb die Kündigungen aufgrund von Langzeiterkrankungen drastisch zunahmen.
Als der EuGH das Problem erkannt hatte, nutzte er die nächste Möglichkeit, um seine Rechtsprechung – in seinen Worten – zu „nuancieren“. Das BAG nennt dies laut der nun vorliegenden Pressemitteilung ein „Ändern“ der Rechtsprechung. Ehrlich bewertet, war dies eine klassische Kehrtwende. Es sieht fast so aus, als hätte der EuGH zunächst nicht erkannt, wie folgenreich seine Rechtsprechung werden könnte und deshalb im Jahre 2011 in seiner sog. „KHS-Entscheidung“ geurteilt, dass das Europarecht nicht einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegensteht, die die Ansammlung von Urlaubsansprüchen auf 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres begrenzt.
Diese Chance hat sich das BAG nicht entgehen lassen und geht sogar über die KHS-Entscheidung hinaus. Das Gericht argumentiert nun, wenn der EuGH vorgebe, dass das Europarecht nur verlangt, dass der Urlaub Langzeiterkrankter 15 Monate angesammelt werden muss, dann seien eben nur 15 Monate und nicht mehr erforderlich. § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG hatte das BAG zunächst in Umsetzung der Schultz-Hoff-Entscheidung des EuGH so interpretiert, dass bei Langzeiterkrankten die Urlaubsansammlung nicht begrenzt ist. Nun legt das BAG die Norm europarechtskonform so aus, dass die Urlaubsansammlung 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres läuft, statt wie bei gesunden Arbeitnehmern drei Monate. Das heißt, dass z. B. der Urlaub für das Jahr 2010 nun zum 31. 3. 2012 verfallen ist. Dass der EuGH in der KHS-Entscheidung mit keinem Wort erwähnt hat, dass generell 15 Monate anzusetzen sind, sondern nur einer konkreten tariflichen Regelung Wirksamkeit beigemessen hat, scheint das BAG nicht zu stören.
Diese Entscheidung stellt endlich einen vernünftigen Ausgleich dar. Auf der einen Seite steht das Interesse der langzeiterkrankten Arbeitnehmer, nicht ihren gesamten Jahresurlaub bzw. dessen Abgeltung aufgrund der Krankheit zu verlieren. Auf der anderen Seite führt die Entscheidung des BAG vom 7. 8. 2012 wieder dazu, dass Arbeitgeber nicht gezwungen werden, zur Risikominimierung generell langzeiterkrankten Arbeitnehmern zu kündigen. Dies wahrt gerade die Interessen der insoweit besonders schützenswerten langzeiterkrankten Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite berücksichtigt das BAG das Interesse der Arbeitgeber, nicht jahrelang angesammelten Urlaub gewähren oder auszahlen zu müssen, dessen Erholungszweck ohnehin nicht mehr erreichbar ist.
Abzuwarten bleibt, ob der EuGH nun nicht doch wieder dieser Rechtsprechung den Boden entzieht, indem er klarstellt, dass er ausschließlich Sachverhalte meinte, in denen eine ausdrückliche Regelung wie z. B. ein Tarifvertrag eine 15-monatige oder längere Verfallsfrist bestimmt. Derzeit überwiegt jedoch die Hoffnung, dass mit der vorliegenden ausgewogenen Entscheidung des BAG Ruhe in das Thema „Verfall von Urlaubsansprüchen bei Langzeiterkrankten“ eingekehrt ist.