Massenentlassungsanzeige: Bei Formfehlern hilft auch kein bestandskräftiger Bescheid der Arbeitsagentur

RA/FAArbR Klaus Heeke, Partner bei Raupach & Wollert-Elmendorff, Frankfurt/M.

 Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 28. 6. 2012 (6 AZR 780/10) den Streit geklärt, ob ein bestandskräftiger Verwaltungsakt (Bescheid der Agentur für Arbeit) nach § 20 i. V. mit § 18 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) die Arbeitsgerichte hinsichtlich der Frage nach einer wirksamen Massenentlassungsanzeige bindet.

 Laut Pressemitteilung des BAG werden Fehler des Arbeitgebers bei Erstattung einer nach § 17 KSchG erforderlichen Massenentlassungsanzeige durch einen solchen bestandskräftigen Bescheid nicht geheilt. Die Arbeitsgerichte seien durch einen solchen Bescheid nicht gehindert, die Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige festzustellen. Auch ein Bescheid der Agentur für Arbeit über die Verkürzung der Sperrfrist heile einen Formfehler nicht. Die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige sei von der Bindungswirkung eines solchen Bescheids nicht umfasst.

 Es spielt damit keine Rolle, wenn die Agentur für Arbeit eine ihr nicht ordnungsgemäß angezeigte Massenentlassung unbeanstandet lässt. Die Arbeitsgerichte sind nicht gehindert, die Unwirksamkeit der betreffenden Massenentlassungsanzeige und damit ggf. die Unwirksamkeit einer Kündigung festzustellen.

Dem Rechtsstreit lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 Der 1970 geborene Kläger war seit 1990 bei der Schuldnerin beschäftigt. Am 8. 12. 2008 wurde über das Vermögen der Schuldnerin das vorläufige Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Die Schuldnerin und der Beklagte beschlossen in der Folgezeit ein Sanierungskonzept, das u.a. einen Personalabbau vorsah. In diesem Zusammenhang nahmen sie Verhandlungen mit dem Betriebsrat über Interessenausgleich und Sozialplan auf. Ersterer kam mit – den Kläger umfassender – Namensliste am 24. 2. 2009 zustande.

 Am 26. 2. 2009 erstattete die Schuldnerin bei der Agentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige. Ein Interessenausgleich wurde nicht beigefügt. Entgegen der gesetzlichen Anordnung in § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG wurde der Anzeige darüber hinaus auch keine Stellungnahme des Betriebsrats beigefügt. Der Betriebsrat der Schuldnerin informierte die Agentur für Arbeit am 26. 2. 2009 lediglich schriftlich darüber, dass er über die Absendung der Anzeige informiert worden sei. Am selben Tag bestätigte die Agentur für Arbeit den Eingang der Massenentlassungsanzeige und beschied später die Verkürzung der Sperrfrist.

 Am 1. 3. 2009 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Beklagter und Betriebsrat schlossen nunmehr einen Sozialplan, aufgrund dessen 38 Arbeitnehmer mittels Aufhebungsvertrag bei der Schuldnerin ausschieden und in eine Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft eintraten. Der Kläger lehnte dies ab und wurde von der Arbeit freigestellt.

 Am 11. 3. 2009 kündigte der Beklagte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. 6. 2009. Der Kläger reichte Kündigungsschutzklage ein.

 Dieser gab das Arbeitsgericht Solingen in erster Instanz statt. Es stellte hierbei zwar auf eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige ab, allerdings mit der Begründung, dass tatsächlich eine größere Anzahl von Entlassungen hätten angezeigt werden müssen.

 Hiergegen legte der Beklagte Berufung ein.

 Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf (LAG) bestätigte das Urteil dem Grunde nach (12 Sa 1321/10, Urteil vom 10. 11. 2010).

 Zwar führe – so das LAG – nicht die divergierende Anzahl der Entlassungen zur Unwirksamkeit der Kündigung, dennoch sei diese gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 und 3 KSchG i. V. mit § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) unwirksam. Mangels Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats bzw. des Interessenausgleichs mit Namensliste oder alternativer Glaubhaftmachung nach § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG sei die Kündigung aufgrund nicht ordnungsgemäß angezeigter Massenentlassung unwirksam gewesen.

Das Schreiben des Betriebsrats vom 26. 2. 2009 könne nicht als Stellungnahme in diesem Sinne gewertet werden, da es weder eine inhaltliche Stellungnahme beinhalte noch eine Erklärung des Verzichts auf eine solche.

 Hinsichtlich des Aspekts, die Agentur für Arbeit habe die Anzeige nicht beanstandet, führte das LAG aus, die Arbeitsgerichtsbarkeit sei nicht an den Bescheid der Agentur für Arbeit und deren aus dem Bescheid ersichtliche Auffassung gebunden. Vielmehr habe das Arbeitsgericht die Massenentlassungsanzeige selbst auf ihre Vollständigkeit und Wirksamkeit zu prüfen.

 Auch das LAG hatte erkannt, dass die Frage, ob ein bestandskräftiger Verwaltungsakt nach § 20 i. V. mit § 18 KSchG hinsichtlich der Wirksamkeit der Anzeige für die Arbeitsgerichte bindend ist, (bisher) umstritten war. Es erteilte den Gegenansichten aber unter folgenden wesentlichen Gesichtspunkten eine klare Absage und wies dabei darauf hin, die Agentur „pflege Massenentlassungsanzeigen von Arbeitgebern mit Oberflächlichkeit und Hast zu billigen“:

 – Der durch § 17 KSchG gewährte Kündigungsschutz dürfe nicht dadurch aufgehoben werden, dass sich Arbeitnehmer falsche Entscheidungen der Agentur für Arbeit entgegenhalten lassen müssten.

 – Weiterhin sei der Arbeitnehmer am Anzeigeverfahren nicht beteiligt und habe keine Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen.

 – Außerdem lege die Agentur für Arbeit bei ihrer Prüfung den Fokus auf die öffentlich-rechtliche Frage der Abkürzung oder Verlängerung der Sperrfrist und prüfe nicht die Zulässigkeit der einzelnen Kündigungen.

 – Der Bescheid der Agentur für Arbeit sei – bezogen auf § 17 KSchG – auch kein gestaltender Verwaltungsakt mit belastender oder begünstigender Wirkung gegenüber dem Kläger und entfalte auch aus diesem Grund keine Bindungswirkung für die Arbeitsgerichte. Diese hätten im Rahmen ihrer Vorfragenkompetenz vielmehr selbst die Massenentlassungsanzeige auf ihre Vollständigkeit und Korrektheit zu überprüfen.

 Auch das Vorbringen des Beklagten, ihm sei vor dem Hintergrund des Bescheids Vertrauensschutz zu gewähren bleibt ohne Erfolg, da er – so das LAG – selbst die Anforderungen des § 17 Abs. 3 KSchG missachtet habe und deshalb keinen Vertrauensschutz verdiene.

 Inwieweit sich das BAG mit diesen Argumenten auseinandergesetzt hat, kann mit Spannung erwartet werden, wird sich jedoch erst mit Veröffentlichung der Entscheidungsgründe klären.

 Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass Praktiker in Zukunft noch genauer auf die Einhaltung der formellen Voraussetzungen der Massenentlassungsanzeige achten müssen und sich nicht auf eine Bindungswirkung der Bescheide der Agentur für Arbeit verlassen dürfen.

 

 

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