Arbeitgeber dürfen ohne weitere Begründung die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Attest) schon vom ersten Tag der Erkrankung verlangen. Dies entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) in der vergangenen Woche (5 AZR 886/11, DB 0556613).
Was auf den ersten Blick für viele Arbeitgeber ein wichtiges und als positiv empfundenes Signal beim Kampf gegen hohe Krankenstände in einem Unternehmen empfunden werden mag, ist auf den zweiten Blick nicht unproblematisch.
Für eine Arbeitsunfähigkeit, die länger als drei Kalendertage andauert, muss der Arbeitnehmer eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem folgenden Werktag (also dem vierten Tag nach Beginn der Erkrankung) vorlegen. Das sieht § 5 Abs. 1 Satz 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) vor. Die Regelung knüpft an § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG an. Die an diesem Punkt umstrittene Vorschrift sieht dann vor, dass der Arbeitgeber berechtigt ist, die Vorlage des Attests früher zu verlangen. Zu den Voraussetzungen eines solchen Verlangens findet sich keine gesetzliche Vorgabe. In der Literatur zum Thema war umstritten, ob es dazu eines begründeten Anlasses bedarf und ob der Arbeitgeber bei der Ausübung des Rechts nicht billiges Ermessen – was ggf. gerichtlich nachprüfbar wäre – ausüben muss. Dem hat das BAG nun eine klare Absage erteilt.
Geklagt hatte eine leitende Angestellte des Westdeutschen Rundfunks, die bei ihrem Arbeitgeber für den 30. 11. 2010 zweimal vergeblich einen Dienstreiseantrag gestellt hatte. Zuletzt war ihr zweiter Antrag am Vortag der geplanten Dienstreise erneut abgelehnt worden. Am 30. 11. 2010 meldete sie sich dann krank. Der Aufforderung des Arbeitgebers, unverzüglich eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beizubringen, kam sie am 01. 12. 2010 nach und meldete sich für diesen Tag wieder arbeitsfähig und gesund. Der Arbeitgeber nahm diesen Vorgang zum Anlass, von der Arbeitnehmerin zukünftig in allen Fällen einer Erkrankung ab dem ersten Tag ein Attest zu fordern. Gegen diese Anweisung richtete sich die Klage. Die Klägerin selbst hatte im Verlauf des Prozesses Korrespondenz zwischen ihr und dem Betriebsarzt des WDR vorgelegt, in der sie sich über die Gepflogenheiten eines solchen Arbeitgeberverlangens ab dem ersten Tag der Erkrankung im Unternehmen erkundigte. Vor Gericht führte die Klägerin aus, dass sie in jüngster Zeit anfange, auf Signale ihres Körpers intensiver zu hören und sich hin und wieder den Anfeindungen durch Auszeiten zu entziehen. Früher habe sie sich oft noch ins Unternehmen geschleppt, obwohl sie sich anders gefühlt habe. Die Klägerin empfand die Entscheidung des Arbeitgebers als willkürlich und sah darin auch eine Verletzung des arbeitsrechtlichen Schikaneverbots. Außerdem berief sie sich auf eine auf ihr Arbeitsverhältnis anwendbare tarifliche Vorschrift, die ebenso wie § 5 Abs. 1 Satz EFZG nur die Vorlage eines Attestes ab dem vierten Tag nach Beginn der Erkrankung vorsah. Im geltenden Tarifvertrag war das Recht eines Arbeitgebers eine vorzeitige Vorlage zu verlangen allerdings nicht geregelt.
Mit ihrer Argumentation hatte die Klägerin keinen Erfolg. Das BAG hat mit seiner jetzigen Entscheidung die Auffassung der Vorinstanzen bestätigt. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln (3 Sa 597/11) hatte zuvor entschieden, dass es im freien, ungebundenen Ermessen des Arbeitgebers liegt, in Anwendung der gesetzlichen Möglichkeit schon ab dem ersten Tag ein Attest zu verlangen. Eine Überprüfung auf die „Billigkeit“ der Entscheidung ist daher nicht möglich. Insbesondere ist laut BAG kein begründeter Verdacht notwendig, dass der Arbeitnehmer in der Vergangenheit eine Erkrankung nur vorgetäuscht habe. Auch für die von der Klägerin geforderte Überprüfung anhand des Schikaneverbots sah das Gericht keine Grundlage. Die Vortrags- und Beweispflicht für entsprechende Behauptungen liegen hier beim Arbeitnehmer. Ein missbräuchliches oder schikanöses Verhalten des Arbeitgebers konnte das LAG nicht erkennen. Der Arbeitgeber hatte demnach das Recht, zukünftig auf die Vorlage eines ärztlichen Attestes am ersten Krankheitstag zu bestehen.
Dieses Recht des Arbeitgebers aus dem Entgeltfortzahlungsgesetz greift allerdings nicht in jedem Arbeitsverhältnis. Eine von der gesetzlichen Vorschrift abweichende Regelung zugunsten eines Arbeitnehmers kann sich sowohl im Einzelarbeitsvertrag als auch in einem Tarifvertrag finden oder sich aus einer abweichenden betrieblichen Übung ergeben. Solchen Abweichungen sind das LAG und auch das BAG nachgegangen. Eine gegenteilige betriebliche Übung nachzuweisen ist jedoch häufig nicht einfach. Die Anforderungen in der Praxis an einen Vortrag eines Arbeitnehmers sind sehr hoch. Das LAG Köln hat jedenfalls im aktuellen Fall die Mitteilung des Betriebsarztes nicht als ausreichend betrachtet, wonach „das Instrument immer dann eingesetzt werde, wenn deutliche Unter-Dreitagesfehlzeiten auftreten.“ Nach Meinung des LAG Köln hätte es eines konkreten Vortrags der Klägerin bedurft, wie viele Arbeitnehmer in der Vergangenheit aufgrund welcher Umstände von der Beklagten aufgefordert wurden, ab dem ersten Krankheitstag eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen. Dies wird ein Arbeitnehmer kaum jemals ausreichend detailliert vortragen können.
Eine abweichende Regelung zugunsten des Arbeitnehmers liegt nach Meinung der Gerichte noch nicht vor, wenn im Tarifvertrag allein die gesetzlichen Bestimmungen, also eine Attestpflicht ab dem vierten Krankheitstag festgehalten sind. Laut BAG hätte es dafür eines tariflichen Zusatzes bedurft, der das Recht des Arbeitgebers ausdrücklich ausschließt. Auch hier sind die Anforderungen hoch. Allein die unvollständige Übernahme des Gesetzestextes genügt nicht für die Annahme eines abweichenden Tarifvertrages. Obwohl sich die Gerichte nicht zur Problematik einer abweichenden vertraglichen Regelung geäußert haben, muss man davon ausgehen, dass ähnliche Grundsätze auch für eine arbeitsvertragliche Regelung gelten. Die Auslegung von Arbeitsverträgen erfolgt aber nach etwas abgewandelten Grundsätzen als diejenige von Tarifverträgen und dient in erster Linie dazu, dem wahren Willen der Parteien zu entsprechen. Womöglich kann dies im Einzelfall zu günstigeren Ergebnissen für einen Arbeitnehmer führen.
Die Entscheidung des BAG ist sicherlich vor dem Hintergrund der Schaffung von Rechtsklarheit in der umstrittenen Frage zu begrüßen. Einige mögen den Regelungsgehalt als sozial unausgewogen empfinden. Die „politische“ Grundentscheidung hat aber nicht das BAG, sondern bereits der Gesetzgeber getroffen. Die Entscheidung des BAG und der Vorinstanzen erfolgte daher in konsequenter Rechtanwendung. Sich und anderen Arbeitnehmern, für deren Arbeitsverhältnisse keine sonstigen Besonderheiten gelten, hat die Klägerin womöglich einen „Bärendienst“ erwiesen. Es steht zu befürchten, dass schon aufgrund der bundesweiten Aufmerksamkeit Arbeitgeber nun verstärkt zu diesem Instrument greifen, dessen Existenz womöglich bislang verborgen war.
Abweichende tarifliche Regelungen sind in der Praxis weitverbreitet. Beispiele finden sich in der Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden und im Bereich des Groß- und Außenhandels NRW. Darüber hinaus können sich Abweichungen auch aus den Einzelarbeitsverträgen ergeben. Ein Arbeitgeber ist also gut beraten, zuerst zu prüfen, was für ihn gilt, bevor er seine „vermeintlichen“ Rechte nach dem EFZG ausübt. Prüfen sollte er seine Entscheidung auch noch unter einem für die Praxis nicht unerheblichen, allerdings nicht juristischen Gesichtspunkt. Aus Kreisen der Ärzteschaft ist zu vernehmen, dass bei flächendeckender erhöhter Ausnutzung des Rechts auf Vorlage eines Attests schon am ersten Krankheitstag, zukünftig mit erhöhten Krankheitsausfällen zu rechnen sein könnte. Ein Arbeitnehmer, der sich wegen eines vorübergehenden Unwohlseins eine ein bis drei Tage dauernde Auszeit nimmt, ohne einen Arzt zu konsultieren, würde dies im Fall der Fälle schon ab dem ersten Krankheitstag tun müssen. Womöglich führt dies dazu, dass ein Arzt den Arbeitnehmer nicht nur für die Dauer von ein bis drei Arbeitstagen als voraussichtlich arbeitsunfähig einstuft, sondern durchaus für einen längeren Zeitraum. Wenn der Arbeitnehmer dies dann in vollem Umfang ausnutzt, führt dies zu längeren Ausfallzeiten. Arbeitgeber sind daher womöglich besser beraten, die Vorlage eines ärztlichen Attestes vor dem vierten Krankheitstag nur in solchen Fällen zu fordern, die Besonderheiten aufweisen.