Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 6. 11. 2012 entschieden, dass die Europäische Kommission (Kommission) die Europäische Union (EU) in einer Schadensersatzklage gegen Mitglieder von Kartellen vor nationalen Gerichten vertreten kann. Außerdem steht nach Auffassung des EuGH die Charta der Grundrechte der EU einer solchen Klage nicht entgegen, auch wenn die Klage auf einer Kartellentscheidung der Kommission beruht. Unternehmen sollten daher bedenken, dass die Kommission nicht nur als zuständige Behörde über einen Wettbewerbsverstoß entscheidet, sondern in derselben Sache auch potenzieller Klägervertreter in einem Schadensersatzprozess ist.
Die Entscheidung geht auf ein Verfahren der Kommission zurück. Im Februar 2007 verhängte die Kommission Geldbußen i. H. von knapp 1 Mrd. € gegen vier Unternehmen wegen Teilnahme an dem sog. Fahrstuhlkartell. Die Kommissionsentscheidung wurde vom Gericht der Europäischen Union (EuG) bestätigt. Derzeit sind dagegen Rechtsmittelverfahren beim EuGH anhängig.
Im Juni 2008 verklagte die Kommission alle vier Unternehmen vor einem belgischen Gericht auf Schadensersatz für Schäden, die den EU-Institutionen als Kunden des Kartells entstanden waren. Das belgische Gericht legte in diesem Verfahren dem EuGH folgende Fragen zur Vorabendscheidung vor:
- War die Kommission befugt, die EU vor einem nationalen Gericht in diesem Fall zu vertreten?
- Hindert die Charta der Grundrechte der Europäischen Union die Kommission daran, eine Schadensersatzklage vor dem nationalen Richter vorzubereiten und einzureichen, wenn die Kommission zuvor über den streitgegenständlichen Wettbewerbsverstoß in ihrer Funktion als Wettbewerbsbehörde entschieden hat?
Der EuGH bejahte zunächst die Klagebefugnis der Kommission nach Art. 282 des EG-Vertrags (jetzt Art. 335 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV). Die EU muss wie jede andere juristische Person behandelt werden, wenn sie als Partei in einem Zivilprozess auftritt. Zu diesem Zweck können die EU-Institutionen von der Kommission vertreten werden.
Nach Ansicht des EuGH steht auch die Grundrechtscharta einer Schadensersatzklage nicht entgegen. Die EU müsse wie jedes andere Opfer von Kartellen behandelt werden. Jedoch müssen dabei aber auch die Rechte der Beklagten gewahrt bleiben.
Dazu stellte der EuGH zunächst fest, dass den Beklagten das Recht auf Zugang zu einem Gericht nicht dadurch entzogen wird, dass ein nationales Gericht bezüglich der Frage, ob ein wettbewerbswidriges Verhalten vorliegt, an die Entscheidung der Kommission im Kartellverfahren gebunden ist. Denn die Beklagten können gegen Entscheidungen der Kommission vor den europäischen Gerichten klagen. In Bezug auf den Grundsatz der Waffengleichheit stellt der EuGH fest, dass jede Partei eine angemessene Gelegenheit zur Stellungnahme haben sollte, ohne gegenüber der anderen Partei benachteiligt zu werden. Da sich die Kommission für die Klage nur auf die Informationen aus der nichtvertraulichen Fassung ihrer Entscheidung stützte, also auf die Informationen, die auch jedem anderen Kläger zur Verfügung standen, schloss der EuGH einen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit aus. Offensichtlich scheint eine Trennung zwischen den einzelnen Dienststellen ausreichend zu sein, damit die Waffengleichheit zwischen Kommission und Beklagten vor den nationalen Gerichten gewahrt ist. Die Kommission kann aber nicht auf weitergehende Informationen aus dem Kartellverfahren zurückgreifen, sonst wäre der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt.
Nach diesem Urteil kann eine Kartellentscheidung der Kommission zu Schadensersatzklagen nicht nur von Unternehmen und Verbrauchern, sondern auch von der EU selbst führen. Das Urteil ist deshalb besonders relevant für jene Unternehmen, die EU-Institutionen beliefern.