Am 9. 11. 2012 hat der Deutsche Bundestag – versteckt im „Gesetz zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess“ – in zweiter und dritter Lesung die Entfristung des insolvenzrechtlichen Überschuldungsbegriffes (§ 19 Abs. 2 InsO) beschlossen. Der in Folge der Weltwirtschaftskrise mit Wirkung ab 18. 10. 2008 durch Art. 5 des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes in die Insolvenzordnung eingefügte Wortlaut, der ursprünglich auf einen Zeitraum von zwei Jahren bis zum 31. 12. 2010 befristet war und zwischenzeitlich bis zum 31. 12. 2013 verlängert wurde, wird nun auch über das Jahresende 2013 hinaus unbefristet Bestand haben. Danach liegt Überschuldung (nur) vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.
Es kommt also dann, wenn es eine sogenannte „positive Fortführungsprognose“ hinsichtlich des Unternehmens gibt, für die Frage der Überschuldung auf eine bilanzielle Gegenüberstellung der Aktiv- und Passivwerte des Unternehmens letztlich nicht mehr an. Mit anderen Worten: Auch ein bilanziell überschuldetes Unternehmen ist nicht im insolvenzrechtlichen Sinne überschuldet, sofern es eine positive Fortführungsprognose aufweist. Eine solche positive Fortführungsprognose wird regelmäßig dann angenommen, wenn das Unternehmen während des laufenden und des nächsten Geschäftsjahres voraussichtlich nicht zahlungsunfähig wird (vgl. etwa Kirchhof, in: Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 6. Auflage, § 19, Rdn. 12 m. w. N.).
Besondere Bedeutung hat das Vorliegen einer Überschuldung für die Frage der Insolvenzantragspflicht juristischer Personen und Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit (§ 15a Abs. 1 InsO) und die damit verbundene zivilrechtliche und strafrechtliche Haftung der Organe der juristischen Person bzw. Gesellschaft im Falle der verspäteten Antragstellung (siehe etwa § 15a Abs. 4 und 5 InsO, § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO, § 64 GmbHG etc.).
Begründet wird die Entfristung nunmehr damit, dass sich § 19 Abs. 2 InsO in der derzeit geltenden Fassung in der Praxis bewährt und die relative Mehrheit der „befragten Experten“ ausweislich einer Studie der Professoren Bitter und Hommerich (siehe dazu Bitter/Hommerich/Reiß, Die Zukunft des Überschuldungsbegriffs, ZIP 2012 S. 1201 ff.) eine dauerhafte Beibehaltung des derzeit geltenden Überschuldungsbegriffes befürwortet habe (siehe Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 17/11385, S. 27).
Damit kehrt der Gesetzgeber nunmehr endgültig zu dem zu Zeiten der Konkursordnung geltenden, maßgeblich auf der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (siehe BGHZ 119, 201, 214, „Dornier-Seastar-Fall“) im Anschluss an entsprechende Vorarbeiten in der Literatur (siehe etwa Karsten Schmidt, in: Scholz, GmbHG, 7. Auflage, § 63, Rdn. 10) beruhenden Überschuldungsbegriff zurück.
Diesem hatte der Gesetzgeber bei Schaffung der zum 1. 1. 1999 in Kraft getretenen Insolvenzordnung noch ausdrücklich eine Absage erteilt und in der bis Oktober 2008 geltenden Fassung des Überschuldungsbegriffs in § 19 Abs. 2 InsO gerade eine zweistufige Überschuldungsprüfung vorgeschrieben, bei der die Frage der positiven Fortführungsprognose nur Bedeutung für die Bewertung der Vermögensgegenstände des Unternehmens in einem durch dieses im Krisenfalle aufzustellenden Überschuldungsstatus hatte. Lag nämlich eine positive Fortführungsprognose vor, so konnte das Unternehmen seine Aktiva „going concern“ bewerten. Lag eine solche Fortführungsprognose nicht vor, musste das Unternehmen seine Aktiva zu Zerschlagungswerten ansetzen. Begründet hatte der Gesetzgeber dies bei Einführung der Insolvenzordnung ausdrücklich damit, dass dann, wenn allein eine positive Prognose zu einer Verneinung der Überschuldung führe, sich dies erheblich zum Nachteil der Gläubiger auswirken könne, wenn sich die Prognose – wie in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall – als falsch erweise (siehe Bericht des Rechtsausschusses, abgedruckt etwa bei Balz/Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze, 2. Auflage, Düsseldorf 1999, S. 226).
Es ist zu begrüßen, dass der Gesetzgeber seine mit Einführung der Insolvenzordnung getroffene Entscheidung der Festschreibung einer Insolvenzantragspflicht für Unternehmen selbst im Falle einer positiven Fortführungsprognose korrigiert. Denn der Überschuldungsbegriff – jedenfalls so lange er ein Anknüpfungspunkt für eine Insolvenzantragspflicht des betroffenen Unternehmens ist – muss letztendlich der Unterscheidung fortführungswürdiger Unternehmen von solchen, die unter Strafandrohung in das Insolvenzverfahren gezwungen werden sollen, dienen (siehe Karsten Schmidt, DB 2008 S. 2467 (2470), instruktiv auch zur gesamten wechselhaften Geschichte des Überschuldungsbegriffes und der Auswirkungen der jeweiligen Formulierung). Ein Unternehmen mit einer positiven Fortführungsprognose, also der Erwartung, dass dieses am Markt überleben und damit letztendlich auch seine Verbindlichkeiten tilgen wird, zwangsweise vom Markt zu nehmen, kann volkswirtschaftlich nicht sinnvoll sein. Es ist daher auch nicht erstaunlich, dass ausweislich der zitierten Studie von Bitter/Hommerich/Reiß sich die relative Mehrheit der befragten Experten für die Beibehaltung des jetzigen und damit für die Wiedereinführung des alten, auf der Rechtsprechung des BGH beruhenden Überschuldungsbegriffes ausgesprochen hat. Bedauerlich ist allerdings, dass der Gesetzgeber in seiner Begründung es nicht fertiggebracht hat, sich mit seiner eigenen Einschätzung bei Schaffung der Insolvenzordnung auseinanderzusetzen. Denn was sich nunmehr in den letzten vier Jahren angeblich „bewährt“ hat, hatte sich erst recht in den Jahren der Fortgeltung der Konkursordnung seit der Entscheidung des BGH im Jahre 1992 bewährt. Dies hatte jedoch den Gesetzgeber nicht gehindert, es bei Einführung der Insolvenzordnung besser wissen zu wollen.