Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat entschieden, dass die Verzinsung von kartellrechtlichen Geldbußen mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Beschluss vom 19. 12. 2012 – 1 BvL 18/11; dazu unter 1.). Praktische Folge dieser Entscheidung ist, dass die betroffenen Unternehmen nun noch mehr als bisher den Faktor Zeit – die Verfahrensdauer – in ihre Überlegungen einstellen müssen, ob sie gegen eine Bußgeldentscheidung des Bundeskartellamts (BKartA) ein Rechtsmittel einlegen (dazu unter 2.). Gegenwärtig belaufen sich die in Rede stehenden Zinsen der bereits laufenden Verfahren auf etwa 50 Mio. €.
1. Am 17. 3. 2005 setzte das BKartA gegen ein betroffenes Unternehmen wegen Kartellverstößen eine Geldbuße von 6,4 Mio. € fest. Das Unternehmen legte Einspruch ein. Im Laufe des gerichtlichen Verfahrens stellte das OLG Düsseldorf das Verfahren hinsichtlich einer Tat ein, auf die ein Teilbetrag der Geldbuße von 0,4 Mio. € entfiel. Im Juli 2009 nahm das Unternehmen wegen der Gefahr einer Erhöhung der verbleibenden Geldbuße durch das OLG Düsseldorf („Verböserung“ oder reformatio in peius) den Einspruch zurück und zahlte die vom Bundeskartellamt festgesetzte Geldbuße für die übrigen Taten.
Am 11. 3. 2011 verlangte das BKartA von dem Unternehmen ca. 1,77 Mio. € an Zinsen auf das Bußgeld. Das Unternehmen wandte sich erneut an das OLG Düsseldorf, das dem BVerfG die Zinspflicht zur Prüfung vorlegte. Das BVerfG jedoch hält § 81 Abs. 6 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) für verfassungsgemäß.
Die Vorschrift sieht die Verzinsung von Geldbußen vor, welche die Kartellbehörden gegen juristische Personen oder Personenvereinigungen verhängen. Die Verzinsung beginnt, unabhängig von einem Rechtsmittel, nach zwei Wochen (§ 81 Abs. 6 Satz 1 GWB). Geldbußen gegen natürliche Personen werden nicht verzinst. Im Verfahren nach Ordnungswidrigkeitenrecht (und das schließt Kartellordnungswidrigkeiten ein) trifft im Falle eines Rechtsmittels das Gericht eine eigene Entscheidung, statt das behördlich verhängte Bußgeld zu bestätigen oder anzupassen, und setzt das Bußgeld neu fest. Dieses gerichtliche Bußgeld wird ebenfalls nicht verzinst.
Das BVerfG hält die unterschiedliche Behandlung von (einerseits) juristischen Personen und Personenvereinigungen und (andererseits) natürlichen Personen mit und ohne Unternehmenseigenschaft für gerechtfertigt (Art. 3 Abs. 1 GG). Für natürliche Personen bestehe nämlich – anders als für juristische Personen und Personenvereinigungen – keine ernsthafte Gefahr der missbräuchlichen Einlegung von Einsprüchen, nur um Zinsvorteile zu erzielen. Gegen natürliche Personen würden nur wenige Kartellgeldbußen verhängt (weniger als 10%, vgl. Beschluss, Rdn. 52) und die durchschnittliche Höhe der Geldbußen sei wesentlich niedriger (wenige 10.000 € gegenüber ca. 4,6 Mio. € , vgl. Beschluss, Rdn. 55). Außerdem reduziere die Pflicht zum persönlichen Erscheinen vor Gericht den Anreiz, Einspruch einzulegen. (Im Fall Flüssiggas ordnete das Gericht die persönliche Anwesenheit der betroffenen Personen an, und es ist bisher zwischen Juni 2010 und März 2013 an mehr als 125 Tagen öffentlich verhandelt worden. Berücksichtigt man die Zeit für Vor- und Nachbereitung der bis zu drei Sitzungstage pro Woche, so standen die betroffenen Personen ihren Unternehmen in dieser Zeit nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. Auch das „kostet“.)
Der effektive Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG), so das BVerfG weiter, möge im Einzelfall „gehemmt“ sein, aber er sei nicht verhindert. Im Einzelfall könne zwar ein Unternehmen von Rechtsmitteln abgehalten werden, wenn die Rücknahme des Einspruchs wegen der Gefahr der Verböserung durch das Gericht die Zinspflicht auslöst – selbst wenn diese Gefahr unverschuldet erst spät erkennbar wird und das Rechtsmittel daher nicht missbräuchlich ist. Der Rechtsschutz muss aber nicht von Verfassungs wegen risikolos sein.
2. Idealtypisch sieht sich ein Unternehmen in verschiedenen Stadien eines Kartellverfahrens der Möglichkeit gegenüber, das Verfahren zu beenden oder nicht weiter zu betreiben, nämlich:
a) die einvernehmliche Beendigung des behördlichen Verfahrens („Settlement“) mit einem Bußgeld, welches das BKartA zuvor mit dem Unternehmen besprochen hat. Hier gewährt das BKartA einen Abschlag von 10% auf das ansonsten verwirkte Bußgeld. Nur im Einzelfall ist die Frage zu beantworten, ob die einvernehmliche Beendigung weitere Vorteile hat, z.B. weil das BKartA bestimmte Tatkomplexe nicht weiter verfolgt;
b) die „Hinnahme“ des Bußgelds, so wie das BKartA es ohne Settlement („streitig“) verhängt;
c) nachdem das Unternehmen zunächst Einspruch eingelegt hat, die Rücknahme des Einspruchs, bevor das Gericht eine Entscheidung erlässt, um eine mögliche Verböserung zu verhindern, jedoch mit der Folge der Verzinsung des behördlichen Bußgelds,
d) die Entscheidung des Gerichts, welche das Bußgeld neu festsetzt, evtl. höher als die Behörde, aber dann ohne Verzinsung.
Ersichtlich ist einem Unternehmen, das vor einem Rechtsmittel zurückschreckt, zu raten, sein Glück in der einvernehmlichen Beendigung zu versuchen. Und diese Überlegung wird sich oft nicht ausschließlich – und nicht einmal in erster Linie – auf die mangelnden Erfolgsaussichten des Rechtsmittels stützen. Bedeutsam ist nämlich auch die vom BVerfG anerkannte Belastung der betroffenen natürlichen Personen durch das gerichtliche Verfahren (s. o. zum Fall Flüssiggas). Für das Rechtsmittelverfahren müssen die betroffenen Unternehmen realistisch einschätzen, ob es aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen zu einer Verböserung kommen kann. Bei einer drohenden erheblichen Verböserung muss das Unternehmen das Rechtsmittel zurücknehmen und das Bußgeld verzinsen. Diese Gefahr mag die Chance auf eine Reduzierung des Bußgelds durch das Gericht auf- oder überwiegen. Bei einer drohenden, nur geringfügigen Verböserung mag es (finanziell) vorteilhaft sein, auf der Entscheidung des Gerichts zu bestehen, weil die erwartete Verböserung hinter der Zinslast zurückbleibt.
Erschwert werden diese Überlegungen durch die Wirkungen der Verfahrensdauer auf das erwartete gerichtliche Bußgeld: Zwar wird dieses nicht verzinst (genauer: es fallen keine Zinsen für den Zeitraum ab zwei Wochen nach Zustellung der behördlichen Entscheidung an). Die Gerichte können aber den eventuellen Zinsvorteil („Justizkredit“) beim betroffenen Unternehmen abschöpfen.
Das gerichtliche Verfahren kann lange dauern. Zum Beispiel im Fall Zementkartell verhängte das BKartA die ersten Bußgelder 2003; nach dem Urteil des OLG Düsseldorf im Jahr 2009 könnte der BGH dieses Jahr entscheiden. Doch müssen die Bußgelder nicht unbedingt rechtskräftig werden, denn der BGH kann das Verfahren zurückverweisen. So kann der Zinsvorteil des betroffenen Unternehmens einen erheblichen Teil des Bußgelds ausmachen.
Dauert aber das gerichtliche Verfahren sehr lange und ist die Verzögerung auf rechts-staatswidrige Verzögerungen des Verfahrens zurückzuführen, so ist das Gericht zwar weiterhin nicht gehindert, den Zinsvorteil abzuschöpfen. Gleichzeitig wird es aber das Bußgeld gerade wegen der Verzögerung – u.U. erheblich (bis zu 30% im Fall Silostellgebühr) – herabsetzen. Auch im Fall Flüssiggas wurden für die betroffenen natürlichen Personen eine Berücksichtigung der Verfahrensdauer durch einen 50%-igen Abschlag gefordert, gleichzeitig für die Unternehmen aber Geldbußen beantragt, die im Durchschnitt 30% höher waren als die behördlichen Geldbußen.
Der kumulative Effekt dieser Erwägungen ist kaum vorhersehbar, nicht zuletzt weil bei Einlegung des Rechtsmittels Verzögerungen im gerichtlichen Verfahren kaum absehbar sind.
Darüber hinaus bleiben weitere Fragen: Kann der Zinsvorteil Bestandteil des „ahndenden“ Bußgelds sein oder muss das Gericht ihn „abschöpfen“ – und zu diesem Zweck gesondert ausweisen (was die steuerliche Absetzbarkeit zur Folge haben kann)? Muss das Gericht den Zinsvorteil ggf. durch Beweisaufnahme feststellen, oder kann es einen Zinsvorteil in Höhe der gesetzlichen Zinsen (derzeit 4,87% p. a.) unterstellen – ein Betrag, der in der Praxis kaum zu erwirtschaften ist?
In jedem Fall ist die ohnehin komplexe Frage, ob ein Rechtsmittel gegen eine kartellbehördliche Bußgeldentscheidung eingelegt werden soll, durch die Pflicht zur Verzinsung und andere Mechanismen zur Berücksichtigung des Faktors Zeit um eine Facette reicher und komplexer geworden.