Viele Versorgungsordnungen enthalten eine sog. „gespaltene Rentenformel“. Nach einer solchen gespaltenen Rentenformel fällt der Teil des ruhegehaltsfähigen Einkommens, der oberhalb der jeweils geltenden Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung (BBG) liegt, bei der Bemessung der Leistungshöhe überproportional ins Gewicht. Vor vier Jahren, am 21. 4. 2009, hat der Ruhegeldsenat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in diesem Kontext zwei Entscheidungen (3 AZR 471/07 = DB0334673 und 3 AZR 695/08 = DB0334672) getroffen, die in der Praxis der betrieblichen Altersversorgung für erhebliches Aufsehen gesorgt haben. Die Erfurter Richter entschieden seinerzeit, Versorgungsordnungen mit einer „gespaltenen Rentenformel“ seien durch die außerplanmäßige Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze (um 6.000 Euro proJahr) im Jahr 2003 regelmäßig lückenhaft geworden und entsprechend dem ursprünglichen Regelungsplan im Wege der Auslegung zu ergänzen (detaillierter hierzu Rößler, DB 2009 S. 2490 = DB0338616). Die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze war nicht vorhersehbar, da der Gesetzgeber von der gesetzlichen Berechnungsmethode (vgl. § 159 SGB VI) abgewichen ist, nach der die BBG für das Jahr 2003 auf Grund der Gehaltsentwicklung auf 55.200 Euro jährlich festzusetzen gewesen wäre – tatsächlich wurde sie aber auf 61.200 Euro erhöht. Deshalb führt diese Auslegung in den meisten Fällen dazu, dass die Betriebsrente ohne Berücksichtigung der Anhebung der BBG zu berechnen ist. Von dieser errechneten Rente wird sodann der Betrag abgezogen, um den sich die gesetzliche Rente infolge höherer Beitragszahlungen erhöht hat.Nachdem das LAG Niedersachsen bereits im Dezember 2009 (11 Sa 1783/07) und die LAG Baden-Württemberg (2 Sa 115/10) und Hessen (8 Sa 1832/10) im Mai bzw. Juni 2011 die BAG-Entscheidungen nicht übernommen und eine ergänzende Vertragsauslegung abgelehnt haben, haben nunmehr auch die Erfurter Richter eine Kehrtwende vollzogen. In ihrer Entscheidung 3 AZR 475/11 vom 23. 4. 2013 (DB0589663) geben sie ausdrücklich die bisherige Rechtsprechung zu diesem Thema auf.In der entsprechenden Pressemitteilung heißt es:
„Eine vor dem 1. 1. 2003 getroffene Versorgungsvereinbarung, die für den Teil des versorgungsfähigen Einkommens oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze (BBG) in der gesetzlichen Rentenversicherung höhere Versorgungsleistungen vorsieht als für den darunter liegenden Teil (sog. „gespaltene Rentenformel“), ist nach der außerplanmäßigen Anhebung der BBG in der gesetzlichen Rentenversicherung zum 1. 1. 2003 nicht ergänzend dahin auszulegen, dass die Betriebsrente so zu berechnen ist, als wäre die außerplanmäßige Anhebung der BBG nicht erfolgt. An der gegenteiligen Rechtsprechung aus den Urteilen vom 21. 4. 2009 (- 3 AZR 471/07 – und – 3 AZR 695/08 -) hält der Senat nicht fest. Ein Anspruch auf eine höhere Betriebsrente wegen der außerordentlichen Anhebung der BBG zum 1. 1. 2003 kann sich allenfalls nach den Regeln über die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) ergeben.“
Das BAG besinnt sich damit auf seine tradierte Rechtsprechung. Der Ruhegeldsenat hat in der Vergangenheit Änderungen der sozialversicherungsrechtlichen Rechtslage immer über das Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage behandelt. Danach ist der Vertragsinhalt an die geänderte Situation anzupassen, falls sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben und die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten. Eine solche gestörte Geschäftsgrundlage hatte das BAG z.B. beim Überschreiten einer Opfergrenze (50 % gesteigerter Aufwand) im Zusammenhang mit Gesamtversorgungssystemen anerkannt, die durch die immer geringer werdende gesetzliche Rente zu stetig steigenden Belastungen der Arbeitgeber geführt hatten. Im Rahmen der Anpassungsrechtsprechung des § 16 BetrAVG ging das BAG in der Vergangenheit zudem von einer Opfergrenze von 40 % aus (der Bundesgerichtshof jedenfalls noch von 30 %). Die Erfurter Richter bejahen hier in ständiger Rechtsprechung, dass eine solche unvorhersehbare Entwicklung zu einer so gravierenden Äquivalenzstörung führt, dass der betroffenen Vertragspartei ein Festhalten am Zusagewortlaut nicht zugemutet werden kann.
Mit Spannung darf nun die Veröffentlichung der Entscheidungsgründe der neuesten Entscheidungen aus Erfurt erwartet werden. Haben die Bundesrichter lediglich ihre Rechtsprechung zur Annahme einer planwidrigen Vertragslücke bei dem vorliegenden Sachverhalt aufgegeben? Oder haben sie auch die Gelegenheit genutzt, auf die deutliche Kritik einzugehen, die sie für die Vorgehensweise bei der Schließung der (vermeintlichen) Lücke geerntet haben? Wird zugunsten der gesteigerten Rechtssicherheit in solchen Fällen der Praxis eine konkrete Opfergrenze an die Hand gegeben – oder bestätigt das BAG zumindest früher genannte -, ab der die Störung der Geschäftsgrundlage anzunehmen ist?
Die Korrektur der Rechtsprechung ist jedenfalls zu begrüßen. Sie ist dogmatisch konsequent und wird im Ergebnis dazu führen, dass die unerwartete Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze im Jahr 2003 weitaus seltener zu wirtschaftlichen Überraschungen in Form erhöhter Pensionslasten führt.
Um einen Wegfall einer Geschäftsgrundlage i. S. des § 313 BGB anzunehmen, muss eine relativ hohe Renteneinbuße durch die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze im Jahr 2003 ausgelöst worden sein. Dass die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung sich entsprechend der Entwicklung der durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelte verändert, wird man wohl als Geschäftsgrundlage solcher Versorgungsordnungen annehmen können – entscheidend ist aber die Frage, ob der Vertragspartei – hier dem Arbeitnehmer – das Festhalten am unveränderten Vertrag zugemutet werden kann. Bei der überwiegenden Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer würde die Betriebsrente ohne die außerordentliche Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze „lediglich“ bis zu 10 % höher liegen. Die Rechtsprechung verkennt zwar nicht, dass eine derartige Schmälerung für den Arbeitnehmer durchaus schmerhaft sein kann, hält sie aber eben nicht für unzumutbar. Die vorgenannten Opfergrenzen werden in der Regel nur bei solchen Versorgungsberechtigten tatsächlich einschlägig sein, bei denen kurz nach 2003 der Versorgungsfall Alter eingetreten ist. Es ist deshalb davon auszugehen, dass sich das Problem nunmehr durch Zeitablauf selbst erledigen wird.
Anders als nach der bisherigen Rechtslage, nach der für jeden einzelnen Versorgungsberechtigten eine realistische Aussicht auf Anpassung nach oben bestand, wenn die Versorgungsordnung eine gespaltene Rentenformel enthielt, muss nunmehr in jedem Einzelfall detailliert geprüft werden, ob die Geschäftsgrundlage der Versorgungszusage gestört sein kann – dies dürfte nur bei einer überschaubaren Anzahl von (ehemaligen) Arbeitnehmern bejaht werden. Das Risiko flächendeckender Nachforderungen besteht damit nicht mehr.
Arbeitgeber werden die Auswirkungen dieser BAG-Entscheidung im nächsten Jahresabschluss bei der Bewertung der in ihrer Handelsbilanz zu passivierenden Pensionsrückstellungen zu berücksichtigen haben. Für diejenigen, die in Folge der Entscheidung in 2009 bereits bilanziell oder vielleicht sogar durch Plananpassungen reagiert haben, stellt sich die Frage, ob die vorgenommenen Maßnahmen nunmehr rückgängig gemacht werden können oder sollen. Ob dies sinnvoll und/oder rechtlich möglich ist, kann nur im jeweiligen Einzelfall beurteilt werden.