Neue Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamtes: Verlierer – und vielleicht auch Gewinner?

RA Dr. Carsten Grave, Partner, Linklaters LLP, Düsseldorf

RA Dr. Carsten Grave, Partner, Linklaters LLP, Düsseldorf

Das Bundeskartellamt (BKartA) hat am 25. 6. 2013 neue Leitlinien für die Bußgeldzumessung bei Kartellrechtsverstößen erlassen, weil der Bundesgerichtshof (BGH) in seiner Entscheidung Grauzementkartell die bisherigen Leitlinien des BKartA praktisch für unanwendbar erklärt hatte (Beschluss vom 26. 2. 2013 – KRB 20/12, DB0588199).

Nach den bisherigen Leitlinien von 2006 baute das BKartA die Bußgeldberechnung auf dem tatbezogenen Umsatz auf, d. h. dem Umsatz mit den kartellierten Produkten; dies entspricht im Wesentlichen dem Ansatz der Europäischen Kommission (nach deren Leitlinien von 2006):

  1. Im ersten Schritt wurde der „Grundbetrag“ festgesetzt, der – unter Berücksichtigung der Schwere des Verstoßes – bis zu 30% des tatbezogenen Umsatzes während der Dauer des Verstoßes betrug. Bei Preis- oder Gebietsabsprachen waren das regelmäßig 20-25 %, bei Preisbindung der zweiten Hand weniger (z. B. 15%).
  2. Der Grundbetrag wurde ggf. durch den „Abschreckungszuschlag“ für große Unternehmen erhöht (daher auch „Konzernzuschlag“); er konnte bis zu 100% betragen und lag in der Praxis häufig bei 20%. Auch erschwerende oder mildernde Umstände (z. B. Wiederholungstat bzw. nur passive Teilnahme an der Zuwiderhandlung) führten zu in Prozent ausgedrückten Zu- oder Abschlägen vom Grundbetrag.
  3. Überstieg das so errechnete Bußgeld 10% des konzernweiten Umsatzes, wurde das Bußgeld auf letzteren Betrag „gekappt“.
  4. Schließlich wurde das Bußgeld um Abschläge für eine Kooperation mit dem BKartA gemäß der Bonusregelung („Kronzeugenregelung“) oder für eine einvernehmliche Verfahrensbeendigung (engl. settlement) gekürzt.
  5. Das BKartA konnte darüber hinaus den wirtschaftlichen Vorteil abschöpfen. Von dieser Möglichkeit hat es allerdings wegen praktischer Schwierigkeiten bei der Bestimmung des kartellbedingten Mehrerlöses keinen Gebrauch (mehr) gemacht.

Anders als die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH) versteht der BGH die gesetzliche 10%-Grenze nicht als Kappungsgrenze und damit als typisierte maximale Leistungsfähigkeit eines Unternehmens, sondern als Sanktion für den denkbar schwersten Fall eines Verstoßes durch ein Unternehmen. Das machte eine Neukonzeption der Bußgeldberechnung erforderlich. Das Bußgeld wird nun – vereinfacht – durch Vergleich mit und Abschläge von der „Bußgeldobergrenze“ bestimmt, welche den gedachten schwerstmöglichen Fall abbildet.

  1. Zunächst wird die gesetzliche Bußgeldobergrenze ermittelt, nämlich 10% (bei fahrlässigem Verstoß 5%) des Konzernumsatzes im Jahr vor der behördlichen Entscheidung. Im Anschluss errechnet das BKartA die individuelle Bußgeldobergrenze. Diese ergibt sich aus der Multiplikation zweier Faktoren: (a) des „Gewinn- und Schadenspotentials“ in Höhe von 10% des Inlandsumsatzes mit den kartellierten Produkten im Tatzeitraum; (b) ein degressiv ansteigender Unternehmensfaktor, der sich nach dem Konzernumsatz bemisst und von 2 (weniger als € 100 Mio. Umsatz) bis über 6 (bei mehr als € 100 Mrd.) reicht. Liegt die individuelle unter der gesetzlichen Bußgeldobergrenze, so engt sie den Bußgeldrahmen ein.
  2. An die Ermittlung des Bußgeldrahmens schließt sich innerhalb desselben die eigentliche Bußgeldzumessung auf Grundlage verschiedener tat- und täterbezogener Kriterien an. Zu ersteren gehören Art und Dauer der Zuwiderhandlung, die Auswirkungen der Tat und die volkswirtschaftliche Bedeutung der betroffenen Märkte; zu letzteren gehören u.a. die Rolle des Unternehmens als „Anführer“ eines Kartells. Insbesondere durch den Vergleich mit dem schwerstmöglichen Fall, dargestellt durch die niedrigere der beiden Bußgeldobergrenzen, soll sich die angemessene Sanktion ergeben. Bei Preis- und Gebietsabsprachen, also vergleichsweise schweren Verstößen, wird die Geldbuße im oberen Drittel des Bußgeldrahmens bleiben (wie bisher solche Verstöße im oberen Drittel der Spanne 0-30 % eingeordnet waren); andere Arten von Verstößen, z.B. Preisbindung der zweiten Hand, werden niedriger eingestuft.
  3. Schließlich werden Abschläge wegen eines Bonusantrages oder wegen einer einvernehmlichen Verfahrensbeendigung vorgenommen.
  4. Das Bundeskartellamt kann (wie bisher) die kartellbedingten Vorteile abschöpfen.

Die Wirkungen der neuen Leitlinien bleiben abzuwarten. Das Bundeskartellamt hat angekündigt, die Bußgelder für Einproduktunternehmen würden sinken, für große und diversifizierte Konzerne könnten sie steigen. Im Durchschnitt jedoch würden die Geldbußen unverändert bleiben (vgl. Pressemitteilung des BKartA vom 25. 6. 2013). Das ist für individuell betroffene Unternehmen ein schwacher Trost und beruht auf der Annahme, das Bundeskartellamt werde in Zukunft die gleichen (Arten von) Verstößen verfolgen wie bisher. In der Praxis könnte die Erwartung höherer Bußgelder (verstanden als Indikator für die volkswirtschaftliche Schädlichkeit eines Kartells) eine gewisse Sogwirkung ausüben und es mag zu einer Häufung von Fällen kommen, bei denen die Bußgelder – gegenüber früher – ansteigen.

Zu begrüßen ist in der Tat, dass die Bußgeldbemessung für Einproduktunternehmen neu geordnet wird. Die bisherige Berechnungsweise hatte häufig untragbar hohe Bußgelder ausgeworfen, die mit anderen Rechtsfiguren korrigiert werden mussten. Vielen dieser Unternehmen mag jedoch auch zukünftig die Entlastung versagt bleiben. Nach den neuen Leitlinien beruht die individuelle Bußgeldobergrenze nämlich auf dem Inlandsumsatz mit den kartellierten Produkten. Das ist aus Sicht des BKartA verständlich und geradezu zwingend. Aber in der Sache werden damit gerade die auf wenige Produkte fokussierten, exportstarken mittelständischen Unternehmen wie Mehrproduktunternehmen behandelt.

Für Handelsunternehmen sind die neuen Leitlinien ein Hoffnungsschimmer – wenn auch nicht mehr. Ähnliches gilt für andere Unternehmen, die den größten Teil ihrer Umsätze auf die Beschaffung von Vorleistungen verwenden müssen. Nach den bisherigen Leitlinien wurde nämlich bei der Berechnung des tatbezogenen Umsatzes nicht danach unterschieden, in welchem Umfang diesem eine eigene Wertschöpfung zugrunde lag. Nach den neuen Leitlinien sollen „Besonderheiten bei der Wertschöpfungstiefe“ berücksichtigt werden.

Dem BKartA muss man zugutehalten, dass es sich überhaupt mit Leitlinien vorwagt, und nicht die weitere Klärung der Rechtsprechung überlässt – die ja die bisherige Anlehnung an die europäische Praxis nicht mehr tolerierte. Aber nur mit veröffentlichten Leitlinien bewahrt sich das BKartA die Aussicht auf eine konstant hohe Zahl einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen. Auf eine solche wollen sich Unternehmen nur bei Transparenz und Klarheit der Maßstäbe für die Bußgeldbemessung einlassen.

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