Es ist eine gute Nachricht für Anfechtungskläger. Aufsichtsratswahlen bei Publikumsaktiengesellschaften entwickeln sich immer mehr zu einem aussichtsreichen Betätigungsfeld. Vor einigen Jahren etwa ließ das OLG München (Urteil vom 6. 8. 2008 – 7 U 5628/07) die Wahlanfechtung zu, wenn die Entsprechenserklärung zum Corporate Governance Kodex fehlerhaft ist. Nun verschärft der BGH auch die Rechtsfolge einer erfolgreichen Anfechtung. Solange der Prozess läuft, muss die Gesellschaft möglicherweise über Jahre um die Wirksamkeit von Aufsichtsratsbeschlüssen bangen. Das ist z. B. für die Bestellung des Vorstandes und die Zahlung von Dividenden bedeutsam.
Zum Hintergrund des Urteils: Wenn der Gesellschaft bei der Aufsichtsratswahl ein Fehler unterläuft, ist der Wahlbeschluss der Hauptversammlung – je nach Schwere des Fehlers – nichtig oder kann angefochten und für nichtig erklärt werden (§§ 241 Nr. 5, 250 Abs. 1 AktG). Auch wenn ein Gericht den Fehler erst später feststellt, tut das Recht im Rückblick so, als sei der Kandidat nie in den Aufsichtsrat gelangt. Was dies für Aufsichtsratsbeschlüsse bedeutet, an denen der Kandidat mitgewirkt hat, darüber sind die Meinungen gespalten. Die Lehre vom „faktischen Organ“, die auch das OLG Frankfurt/M. vertrat (Urteil vom 7. 9. 2010 – 5 U 187/09), behandelt den Kandidaten aus Gründen der Rechtssicherheit für die Vergangenheit größtenteils wie ein vollwertiges Mitglied – auch bei der Stimmabgabe.
Dagegen stellt sich nun der BGH (Urteil vom 19. 2. 2013 – II ZR 56/12; DB 2013 S. 806). In dem entschiedenen Fall hatte ein Aktionär 2008 die Wahl sämtlicher Aufsichtsratsmitglieder auf der Hauptversammlung der IKB angefochten. Die Gewählten traten nach Übernahme der IKB durch LoneStar aber wieder zurück. Der BGH musste entscheiden, ob sich die Wahlanfechtung dadurch erledigt hatte. Da die Ämter nicht mehr bestanden, hatte die Klage nur noch dann einen Sinn, wenn sich die Anfechtung auf frühere Aufsichtsratsbeschlüsse auswirken konnte. Das bejahte der BGH. Bei erfolgreicher Klage sei der Kandidat rückblickend als Nichtmitglied zu behandeln. Für Aufsichtsratsbeschlüsse, an denen er mitgewirkt hat, sind die Stimmen ohne seine Stimme neu auszuzählen. Das Beschlussergebnis kann sich dadurch umkehren. War der Aufsichtsrat ohne den Kandidaten nicht beschlussfähig (§ 108 AktG), ist der jeweilige Beschluss sogar nichtig.
Für die Praxis ist dies eine harte Rechtsfolge. Bis die Klage nach drei Instanzen rechtskräftig entschieden ist, können Jahre vergehen. Muss der Aufsichtsratsvorsitzende öfter seine Zweitstimme einsetzen, kann schon ein fehlerhaft bestelltes Mitglied rückwirkend die Mehrheiten verschieben. Wurden sämtliche Aufsichtsratsmitglieder fehlerhaft gewählt (etwa weil ein Aktionär in der Hauptversammlung zu Unrecht nicht zu Wort kam) oder war ein Dreier-Aufsichtsrat mit einem fehlerhaft bestellten Mitglied durchweg beschlussunfähig, sind sämtliche Aufsichtsratsbeschlüsse der Wahlperiode unwirksam.
Eine klare Empfehlung, wie mit dieser Unsicherheit umzugehen ist, gibt es nicht. Bis zum rechtskräftigen Urteil bleibt der Betroffene vollwertiges Aufsichtsratsmitglied. Oft wird seine gerichtliche Ersatzbestellung (§ 104 AktG) empfohlen, ggf. nach vorheriger Amtsniederlegung. Ob die Gerichte diese Vorgehensweise akzeptieren, ist noch offen. Es bleibt ein möglicher Bestätigungsbeschluss durch die Hauptversammlung (§ 244 AktG). In beiden Fällen bietet die Gesellschaft den Klägern neue Angriffsfläche und schafft zudem Rechtssicherheit nur für die Zukunft.
Die nachträgliche Unwirksamkeit von Aufsichtsratsbeschlüssen kann gravierende Folgen haben. Glücklicherweise erkennt der BGH einige Ausnahmen an. Dritte, die Rechtsgeschäfte mit der Gesellschaft abschließen (z. B. die Beauftragung des Abschlussprüfers), dürfen auf die ordnungsgemäße Besetzung des Aufsichtsrats vertrauen. Der Vorstand der Gesellschaft darf sich so lange als wirksam bestellt betrachten, bis die Unwirksamkeit seiner Bestellung letztinstanzlich festgestellt ist; dann aber entfällt sie. Beschlüsse der Hauptversammlung sind nicht deshalb anfechtbar, weil sich die Beschlussvorschläge des Aufsichtsrats (§ 124 Abs. 3 AktG) als unwirksam herausstellen oder die Wahl des versammlungsleitenden Aufsichtsratsvorsitzenden für nichtig erklärt wird.
Offengelassen hat der BGH jedoch die Frage, ob der Jahresabschluss, dessen Billigung durch den Aufsichtsrat aufgrund der fehlerhaften Besetzung nicht zustande kam, nichtig und deshalb die Dividendenzahlung unzulässig sein kann (§§ 256 Abs. 2, 253 Abs. 1 Satz 1 AktG). Weitere Zweifelsfälle möchte der BGH jeweils nach der Interessenlage im Einzelfall behandelt wissen. Die Kasuistik dazu bleibt abzuwarten. Für betroffene Gesellschaften und ihre Aktionäre ist dies höchst unbefriedigend.