Der 1. Senat des BAG hat am 9. 7. 2013 (1 ABR 2/13) angekündigt, seine Auffassung zu den Anforderungen an einen wirksamen Betriebsratsbeschluss ändern zu wollen. Da auch der 7. Senat des BAG in der Vergangenheit bereits Entscheidungen zu dieser Sachfrage getroffen hat, konnte der 1. Senat nicht einfach seine Meinung ändern, sondern musste beim 7. Senat anfragen, ob er sich dem Meinungsumschwung anschließen wolle. Für den Fall, dass der 7. Senat dies nicht tut, muss der Große Senat des BAG entscheiden.
Worum geht es inhaltlich? Der Betriebsrat ist ein Kollektivorgan. Einzelne Mitglieder können nicht einfach Entscheidungen treffen, die das Gremium binden. Dazu muss der Betriebsrat förmliche Beschlüsse fassen. Nach bisheriger Rechtsprechung des BAG setzt ein wirksamer Beschluss – neben der Beschlussfähigkeit, also der Anwesenheit einer ausreichenden Anzahl von Betriebsratsmitgliedern – insbesondere voraus, dass in der Ladung zu der Betriebsratssitzung bereits sämtliche Themen, über die abgestimmt werden soll, hinreichend bestimmt genannt sind. Eine Erweiterung der Tagesordnung ist nach bisheriger Auffassung des BAG nur dann zulässig, wenn die geladenen Betriebsratsmitglieder sämtlich bei der Betriebsratssitzung anwesend sind und einstimmig die Erweiterung der Tagesordnung annehmen. Der 1. Senat möchte an dieser Stelle seine Rechtsprechung lockern. Nach seiner neuen Auffassung soll die Anwesenheit sämtlicher Betriebsratsmitglieder nicht erforderlich für die Erweiterung der Tagesordnung sein. Vielmehr sollen die Beschlussfähigkeit des Gremiums sowie die einstimmige Annahme der Erweiterung der Tagesordnung genügen.
Was sich wie ein typisches Beispiel juristischer Haarspalterei anhört, kann in der Praxis gravierende Auswirkungen haben. In der Fallkonstellation, die dem Meinungsumschwung des BAG zu Grunde lag, ging es um eine Betriebsvereinbarung zur Durchführung von Torkontrollen. Ohne wirksamen Betriebsratsbeschluss sind Betriebsvereinbarungen unwirksam. Anders als etwa bei Betriebsratsanhörungen nach § 102 BetrVG kann der Arbeitgeber sich hier nicht auf die sog. Sphärentheorie berufen, wonach ihm ein Fehler in der Sphäre des Betriebsrats nicht zum Nachteil gereichen darf. Betriebsvereinbarungen gelten unmittelbar und zwingend für alle Mitarbeiter des Betriebs, also „quasi-gesetzlich“. Vor diesem Hintergrund ist es angemessen, die Wahrung eines demokratischen Legitimationsprozesses – ordentliches Beschlussverfahren – zu fordern. Allerdings überfordert die formalistische Strenge des BAG zahlreiche Betriebsratsgremien und führt immer wieder zu negativen Überraschungen für Arbeitgeber, Betriebsrat und Belegschaft.
So ist es beispielsweise bei den Verhandlungen über den Abschluss von Interessenausgleichen und Sozialplänen geradezu ein Naturgesetz, dass diese unter großem Zeitdruck abgeschlossen werden. Um Kündigungsfristen und Termine sowie die Beteiligung der Betriebsräte noch einhalten zu können, werden Interessenausgleich und Sozialplan häufig zu später Stunde von beiderseitigen Verhandlungsgremien abgeschlossen. Wenn der Arbeitgeber in dieser Konstellation nicht darauf achtet, dass der Betriebsrat sämtliche Mitglieder zu einer außerordentlichen Betriebsratssitzung unter Angabe und Vorbereitung der Tagesordnung „Annahme von Interessenausgleich und Sozialplan“ einlädt, lauern auf den die Kündigungen aussprechenden Arbeitgeber finanziell ganz erhebliche Haftungsrisiken. Verbieten Betriebsvereinbarungen bestimmte Verhaltensweisen (z.B. Rauchen oder Alkoholkonsum im Betrieb) und verstößt ein Arbeitnehmer gegen dieses Verbot, kann der Arbeitgeber normalerweise Abmahnungen oder gar Kündigungen aussprechen. Stellt sich jedoch die Betriebsvereinbarung im Nachhinein als unwirksam heraus, wäre eine Kündigung ebenfalls unwirksam.
In vielen Betrieben ist es zudem – zu Unrecht – unüblich, dass der Betriebsrat dem Arbeitgeber Einblick in Ladungen, Anwesenheitslisten und Beschlussfassungen gibt. Arbeitgeber, die sich dies gefallen lassen, handeln mit freiwillig verbunden Augen – sie wissen nicht, ob die in ihrem Betrieb abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen gültig sind.
Durch die strengen formalen Kriterien der bisherigen BAG-Rechtsprechung wird auch die Betriebsratstätigkeit behindert. Eine schnelle Reaktion auf dringende Fragen wird dadurch unnötig verzögert und die betriebliche Atmosphäre belastet.