In den Rechtssachen Pfleiderer (EuGH-Urteil vom 14. 6. 2011 – Rs. C-360/09; hierzu Kersting, JZ 2012 S. 42) und DonauChemie (EuGH-Urteil vom 6. 6. 2013 – Rs. C-536/11, DB0603061; hierzu Kersting, JZ 2013 S. 737) entwickelte der EuGH aus dem primärrechtlichen Effektivitätsprinzip das Gebot der Einzelfallabwägung bei Entscheidungen über Akteneinsichtsgesuche in Kronzeugendokumente. Dennoch sieht auch der nunmehr veröffentlichte Kompromissvorschlag für eine Richtlinie über private Schadensersatzklagen in Art. 6 Abs. 5 den vollständigen und einzelfallunabhängigen Ausschluss von Kronzeugenerklärungen von der Akteneinsicht vor. Zudem will der Entwurf in Art. 6 Abs. 1 “Gepflogenheiten im Bereich des Schutzes der internen Unterlagen von Wettbewerbsbehörden” von den Bestimmungen der Richtlinie unberührt lassen. Dies erscheint fragwürdig, da eine pauschale Übernahme einer Verwaltungspraxis erfolgt, ohne dass deren Rechtmäßigkeit oder Zweckhaftigkeit hinterfragt wird. Zudem ist unklar, welche “Gepflogenheiten” genau gemeint sind. Im Hinblick auf den gänzlichen Ausschluss von Kronzeugenunterlagen von der Offenlegungsmöglichkeit gilt: Da der Richtliniengesetzgeber dem nationalen Gesetzgeber nichts gebieten darf, was diesem das Primärrecht verbietet, ist diese Regelung selbst primärrechtswidrig. Nur eine Regelung, welche zumindest im Ausnahmefall auch die Möglichkeit einer Offenlegung von Kronzeugendokumenten erlaubt, ist primärrechtskonform.
Sinnvoller erscheint demgegenüber eine Lösung des Problems der Akteneinsicht in Kronzeugenunterlagen über eine Privilegierung des erfolgreichen Kronzeugen im Innenverhältnis. Wie bereits mehrfach vorgeschlagen (zuletzt im Rahmen einer Stellungnahme vor dem Wirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments, abrufbar bei SSRN), sollte der erfolgreiche Kronzeuge zwar gegenüber den Geschädigten als Gesamtschuldner haften, allerdings gegen die anderen Schädiger im Innenverhältnis einen vollständigen Ausgleichsanspruch erhalten. Kronzeugenunterlagen könnten dann offengelegt werden, ohne dass potenzielle Kronzeugen von der Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung abgeschreckt würden. Der Kompromissvorschlag sieht allerdings in Art. 11 vor, dass ein erfolgreicher Kronzeuge grundsätzlich nur gegenüber seinen unmittelbaren und mittelbaren Abnehmern oder Lieferanten gesamtschuldnerisch haftet. Gegenüber anderen Geschädigten soll der Kronzeuge nur haften, wenn diese von den übrigen Schädigern keinen vollständigen Schadensersatz erhalten. Dies entspricht dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission und ist daher auch den gleichen Vorbehalten ausgesetzt: Es handelt sich um eine Belastung der Kartellgeschädigten, die ihr Recht auf Schadensersatz weniger effektiv macht.
Hinsichtlich der Anerkennung der Entscheidungen von Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten weicht der Kompromissvorschlag des Europäischen Rates von den Entwürfen des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission deutlich ab. Nachdem Zivilgerichte ursprünglich an die Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden und Rechtsbehelfsgerichte aller Mitgliedstaaten gebunden sein sollten, sieht Art. 9 Abs. 1 nur noch vor, dass eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht als “unwiderlegbar festgestellt gilt”, wenn sie von einer Wettbewerbsbehörde oder einem Rechtsbehelfsgericht in demselben Mitgliedstaat festgestellt wurde. Die Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden und Rechtsbehelfsgerichte anderer Mitgliedstaaten können gem. Art. 9 Abs. 2 nur noch als Beweis dafür vorgelegt werden, “dass eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht begangen wurde”. Der Bedeutungsgehalt dieser Regelung ist unklar. Die Rechtsansicht anderer Gerichte ist kein Beweis für das Vorliegen einer Zuwiderhandlung; das entscheidende Gericht wird die Argumente einer vorliegenden Entscheidung würdigen, sich aber trotzdem eine eigene Rechtsmeinung bilden müssen. Ob eine vorliegende Entscheidung ein Beweis auf Tatsachenebene sein kann, ist ebenfalls fraglich. Denn eine Bindung an die Tatsachenfeststellungen ist wohl nicht gewollt. Ohne eine solche Bindung sagt die Entscheidung in tatsächlicher Hinsicht jedoch nur aus, dass eine andere Institution vom Vorliegen einer Zuwiderhandlung ausging. Für die Entscheidung des mit der Sache nun befassten Gerichts ist dies rechtlich aber irrelevant. Lediglich in praktischer Hinsicht mag es zu einem “Herdentrieb” kommen, welcher letztlich doch zu einheitlichen Entscheidungen führt.
Rechtsgrundlage für die Richtlinie sollen weiterhin Art. 103 AEUV und Art. 114 AEUV sein. Allerdings wird z. T. auch vertreten, dass die Richtlinie nur auf Art. 103 AEUV gestützt werden kann. Dies hätte die – nunmehr vollumfänglich wahrgenommenen – Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments deutlich beschnitten. Hier bleibt abzuwarten, ob diese Frage noch einer gerichtlichen Klärung zugeführt werden wird.