Leiharbeitsrichtlinie: Zulässigkeit der dauerhaften Arbeitnehmerüberlassung weiter ungeklärt

RA/FAArbR Dr. André Zimmermann LL.M., Counsel, King & Wood Mallesons LLP, Frankfurt a.M.

RA/FAArbR Dr. André Zimmermann LL.M., Counsel, King & Wood Mallesons LLP, Frankfurt a.M.

Im Rahmen eines finnischen Vorlageverfahrens hatte der EuGH jetzt erstmals Gelegenheit zur Auslegung der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG (Urteil vom 17. März 2015, Rechtssache C-533/13). Nicht wenige Arbeitsrechtler, möglicherweise auch die Politik hatten auf Antworten auf grundlegende Fragen gehofft, vor allem zur Vereinbarkeit des dauerhaften  Einsatzes von Leiharbeitnehmern mit der Richtlinie. Diese Hoffnung wurde enttäuscht: Ob dauerhafte Arbeitnehmerüberlassung gegen die Leiharbeitsrichtlinie verstößt, lässt das Gericht in seinem Urteil offen.

Die Vorlage des finnischen Gerichts – Einschränkung von Leiharbeit durch Tarifvertrag

Die Gewerkschaft der Transportarbeiter klagt gegen ein Transportunternehmen und einen Arbeitgeberverband wegen Verletzung von Tarifverträgen.

Nach den Tarifverträgen haben Unternehmen den Einsatz von Leiharbeitnehmern auf den Ausgleich von Arbeitsspitzen oder sonst begrenzte Aufgaben zu beschränken, die wegen der Dringlichkeit, der begrenzten Dauer der Arbeit, erforderlicher beruflicher Kenntnisse und Spezialgeräte oder aus vergleichbaren Gründen eigenen Arbeitnehmern nicht übertragen werden können. „Unlauter“ ist nach den Tarifverträgen der Einsatz von Leiharbeit, wenn die Leiharbeitnehmer während eines längeren Zeitraums normale Arbeiten des Unternehmens neben den Stammarbeitnehmern und unter derselben Leitung ausführen.

Die Gewerkschaft macht geltend, das Transportunternehmen setze in erheblichem Umfang Leiharbeitnehmer zur Erledigung von Aufgaben ein, die mit denen der eigenen Arbeitnehmer des Unternehmens identisch seien. Das sei „unlauter“ im Sinne der Tarifverträge.

Die Beklagten wenden ein, der Einsatz der Leiharbeitnehmer sei gerechtfertigt. Es sollten hauptsächlich Urlaubs- und Krankheitsvertretungen von Stammarbeitnehmern abgedeckt werden. Darüber hinaus, so die Beklagten, enthalten die tarifvertraglichen Regelungen eine der Leiharbeitsrichtlinie widersprechende, ungerechtfertigte Einschränkung des Einsatzes von Leiharbeit. Das nationale Gericht dürfe sie daher nicht anwenden.

Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie sind Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit nur aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt. Aufgezählt werden hier der Schutz der Leiharbeitnehmer, die Erfordernisse von Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie die Notwendigkeit, das reibungslose Funktionieren des Arbeitsmarktes zu gewährleisten und eventuellen Missbrauch zu verhüten.

Ist ein Dauereinsatz von Leiharbeitnehmern neben Stammarbeitnehmern verboten?

Das finnische Arbeitsgericht hat daraufhin das Verfahren ausgesetzt und beim EuGH im Vorlageverfahren angefragt, ob die tarifvertraglichen Regelungen eine ungerechtfertigte Einschränkung des Einsatzes von Leiharbeitnehmern darstellen, die mit Art. 4 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie unvereinbar ist und die das Gericht verhindern muss, und ob der längerfristige Einsatz von Leiharbeitnehmern neben Stammarbeitnehmern im Rahmen der gewöhnlichen Arbeitsaufgaben verboten ist.

Die Stellungnahme des Generalanwalts vom 20. November 2014

Der zuständige Generalanwalt betonte in seiner Stellungnahme vom 20. November 2014 (siehe hierzu auch den Blogbeitrag Ist ein Dauereinsatz von Leiharbeitnehmern verboten?). zunächst die Pflicht der Mitgliedstaaten, Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit aufzuheben, soweit sie nicht durch Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt sind, wie sie in Art. 4 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie beispielhaft aufgezählt sind. Damit folgte der Generalanwalt der Auffassung der Beklagten und des vorlegenden Gerichts – und widersprach insbesondere der Auffassung der Klägerin, der Kommission und der deutschen Bundesregierung.

Zugleich unterstrich der Generalanwalt aber, dass Leiharbeitsverhältnisse „vorübergehender Art“ sind und sich nicht zum Nachteil von Stammarbeitnehmern auswirken dürfen. Leiharbeit sei eine atypische Arbeitsform, die den Regelfall der direkten Anstellung nicht verdrängen dürfe. Bei der Erreichung dieses Ziels bestätigte er aber den großen Regelungsspielraum der Mitgliedstaaten. Ein Missbrauch von Leiharbeit sei anzunehmen und könne ohne Verstoß gegen die Richtlinie von Mitgliedstaaten verboten werden, wenn Leiharbeitnehmer neben Stammarbeitnehmern bei dauerhaftem Bedarf für längere Zeit eingesetzt werden. Das zeitliche Element hatte der Generalanwalt in den Schlussanträgen allerdings nicht näher konkretisiert, worauf viele gehofft hatten.

Die Antwort des EuGH: Keine unmittelbare Wirkung von Art. 4 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie

Der EuGH hat nur die erste Vorlagefrage beantwortet, ob Art. 4 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie nationale Behörden und Gerichte verpflichte, nationale Vorschriften unangewendet zu lassen, die gegen die Richtlinie verstoßen. Die übrigen Vorlagefragen ließ er unbeantwortet, insbesondere, ob der längerfristige Einsatz von Leiharbeitnehmern neben Stammarbeitnehmern im Rahmen der gewöhnlichen Arbeitsaufgaben nach der Richtlinie verboten ist, wie es hier der finnische Tarifvertrag vorsah.

Während der Generalanwalt die erste Vorlagefrage bejaht hatte, verneint der EuGH sie. Das Gericht betont, dass sich Art. 4 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie nur an die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten richte. Aus einer systematischen Auslegung ergebe sich, dass es nur Aufgabe der zuständigen Behörden sei, zu prüfen, ob nationale Verbote oder Einschränkungen der Leiharbeit gerechtfertigt sind. Solche Verpflichtungen könnten nationale Gerichte nicht erfüllen.

Gegebenenfalls waren daher die Mitgliedstaaten veranlasst, ihre nationalen Regelungen über Leiharbeit zu ändern. Es stehe den Mitgliedstaaten jedoch frei, nicht gerechtfertigte Verbote oder Einschränkungen aufzuheben oder anzupassen. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie schreibe den Mitgliedstaaten nicht den Erlass einer bestimmten Regelung vor sondern lege nur den Rahmen fest, in dem sich ihre Regelungstätigkeit abspielen dürfe.

Bedeutung für das nationale Recht und die angekündigte AÜG-Reform

Das Gericht bestätigt die Pflicht der Mitgliedstaaten bzw. der zuständigen nationalen Behörden, Verbote und Einschränkungen der Leiharbeit auf ihre Rechtfertigung durch Allgemeinwohlinteressen zu prüfen. Im deutschen AÜG dürfte etwa das Verbot der Leiharbeit im Baugewerbe (§ 1 b AÜG) diese Prüfung nicht bestehen.

Anders als der Generalanwalt hat sich das Gericht nicht mehr mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob der dauerhafte Einsatz von Leiharbeitnehmern statt Stammarbeitnehmern nach der Leiharbeitsrichtlinie unzulässig ist. Viele Arbeitsrechtler hatten sich mehr vom Ausgang des Verfahrens erhofft – etwa einen Hinweis darauf, welches zeitliche Moment in dem Wort „vorübergehend“ steckt.

Womöglich hatte sich auch die Politik mehr vom Ausgang des Verfahrens versprochen: Nicht wenige Experten nehmen an, dass das federführende Bundesministerium für Arbeit und Soziales deshalb mit der Vorlage eines Referentenentwurfs für die AÜG-Reform zögert, weil der Ausgang des Verfahrens abgewartet werden sollte.

Für das nationale Recht stehen die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG fest: Ein mehr als vorübergehender Einsatz von Leiharbeitnehmern ist unzulässig und berechtigt den Betriebsrat im Einsatzbetrieb zur Zustimmungsverweigerung wegen Gesetzesverstoßes (§ 99  Abs. 2 Nr. 1 BetrVG). Dieser Ansicht des 7. Senats (Beschluss vom 10.07.2013 – 7 ABR 91/11) hat sich inzwischen auch der 1. Senat des BAG angeschlossen (Beschluss vom 30.09.2014 – 1 ABR 79/12), nachdem das LAG Nürnberg (Beschluss vom 29.10.2013 – 7 TaBV 15/13) dem ausdrücklich widersprochen hatte (siehe hierzu auch den Blogbeitrag Betriebsrat kann beim Einsatz von Zeitarbeitnehmern „vorübergehend quer schießen“!).

Freilich hat der 1. Senat keine Bedenken zur Vereinbarkeit des Verbots der mehr als vorübergehenden Überlassung mit der Leiharbeitsrichtlinie – weshalb er selbst auch nicht den Weg des Vorlageverfahrens gewählt hatte. Auch wenn der Richtlinie nicht zu entnehmen sei, wie „vorübergehend“ zu definieren ist, drücke sie ohne jeden Zweifel aus, dass Zeitarbeit durch dieses Kriterium geprägt werde.

Das Tatbestandsrätsel „vorübergehend“ bleibt auch nach der Entscheidung des EuGH ungelöst. Der Generalanwalt hatte das zeitliche Element unter Hinweis auf den Regelungsspielraum der Mitgliedstaaten nicht näher konkretisiert. Da sich der EuGH mit dieser Vorlagefrage – aus seiner Sicht konsequent – nicht befasst hatte, fehlen auch hier Hinweise darauf, welche zeitlichen Einschränkungen mit Unionsrecht vereinbar wären. Klar ist derzeit aus nationaler Sicht nur, dass der zeitlich nicht begrenzte Einsatz eines Leiharbeitnehmers anstelle eines Stammarbeitnehmers nicht mehr „vorübergehend” ist (BAG, Beschluss vom 10.07.2013 – 7 ABR 91/11).

Der Koalitionsvertrag „Deutschlands Zukunft gestalten“ sieht vor, das Wort „vorübergehend“ dahingehend zu „konkretisieren“, dass eine tarifdispositive Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten festgeschrieben wird. Diese Höchstüberlassungsdauer ist wohl vereinbar mit EU-Recht, weil die Richtlinie den Mitgliedstaaten keine genauen Vorgaben macht, ihnen vielmehr einen großen Regelungsspielraum lässt bei der Erreichung der Richtlinienziele. Möglich dürften  auch andere Formen der Einschränkung sein, etwa die Beschränkung des Einsatzes von Leiharbeitnehmern auf begrenzte Sonderaufgaben, wie sie im Vorlageverfahren der finnische Tarifvertrag vorsieht.

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