Deutschland erlebt derzeit eine Renaissance der Streikkultur und des Streikrechts. Unsere Wirtschaftsabläufe leben von einer engen Verzahnung unterschiedlicher Unternehmen, Dienstleister und Zulieferer. Diese enge Verzahnung bringt eine große Anfälligkeit für Störungen der Abläufe denknotwendig mit sich. Wenn der Zulieferer nicht liefert, stehen beim Hersteller die Bänder still. Diesen einfachen Grundsatz hat schon in der Vergangenheit bspw. die IG Metall geschickt ausgenutzt und – zur Schonung der Streikkasse – Schlüsselzulieferer mit kleinen Belegschaften bestreikt, um damit die Automobilindustrie insgesamt zu treffen.
Heute beobachten wir eine Steigerung dieses Prinzips: Kleine Spartengewerkschaften rufen ihre (zahlenmäßig überschaubaren) Mitglieder zum Streik auf und verursachen damit enorme Auswirkungen. Dabei wird – man denke nur an die Gewerkschaften von Lokführern, Piloten und Fluglotsen – der Druck auf den Arbeitgeber gezielt damit ausgeübt, dass der Streik eine Vielzahl an Personen (Berufspendler, Berufsreisende, Urlaubsreisende, Gütertransport, Güterversorgung von Industriekunden usw.) trifft. Neben dem „Kerndruck“ des Streiks, also dem operativen Schaden beim bestreikten Unternehmen selbst, zielen solche Spartengewerkschaften mit ihren Streiks bewusst darauf ab, dass ihr Arbeitgeber zugleich dem Druck der Drittbetroffenen und der Öffentlichkeit ausgeliefert ist.
Streik als legitimes Arbeitskampfmittel
Eine Arbeitsniederlegung als solche ist per se eine Handlung, die nach den zivilrechtlichen Grundsätzen unrechtmäßig ist – entweder als Verstoß gegen Vertragspflichten (Arbeitspflicht aus dem Arbeitsvertrag) oder als deliktischer Eingriff in den Gewerbebetrieb.
Durch Art. 9 Abs. 3 GG und die darauf basierende Rechtsprechung zum Streikrecht (eine konkretere Kodifikation ist bis heute noch nicht erfolgt) wird diese Arbeitsniederlegung gerechtfertigt. Allerdings ist diese Rechtfertigungswirkung von Art. 9 GG nicht uferlos. Anders als in Frankreich bspw. rechtfertigt Art. 9 GG bspw. keine sog. Politischen Streiks, also Arbeitsniederlegungen, die auf die Änderung einer politischen Entscheidung (Rentenreform o.ä.) abzielen. Der Arbeitskampf ist nämlich nur insoweit legitim als er auf einen Tarifabschluss zielt. Arbeitgeber können aber keine Gesetzesänderungen herbeiführen, weshalb politische Streiks in Deutschland unzulässig sind. Ebenso sind Streiks zu Zeitpunkten, zu denen das avisierte Streikziel bereits bzw. noch tariflich geregelt ist, also während der Laufzeit eines Tarifvertrages. Dies ist die Befriedungsfunktion des Tarifrechts. Wenn der Tarifvertrag geschlossen ist, soll es keinen Streik mehr geben (sog. „Relative Friedenspflicht“).
Wird dennoch gestreikt, ist ein solcher Streik rechtswidrig. Er kann gerichtlich untersagt werden, was – angesichts der Bedeutung des Art. 9 GG – nur selten vorkommt. Im Falle eines rechtswidrigen Streiks sind die den Streik organisierende Gewerkschaft und die zu Unrecht Streikenden dem Streikopfer zum Schadensersatz verpflichtet.
BAG: Kein Schadensersatz für Drittbetroffene
In zwei Entscheidungen vom 25. August 2015 hat das BAG nun in zwei Fällen einen Schadensersatzanspruch von Unternehmen, die durch den rechtswidrigen Streik gegen ein drittes Unternehmen betroffen waren, verneint. In einem der beiden Fälle hatte die Gewerkschaft der Fluglotsen (GdF) den Flughafen Stuttgart bestreikt, wodurch zahlreiche Flüge diverser Fluglinien ausfielen. Im zweiten Fall hatte die GdF einen Streik angekündigt und schon durch die Ankündigung gingen Buchungszahlen zurück und Flüge wurden gestrichen. In beiden Fällen wurden die Streiks durch gerichtliche Entscheidungen gestoppt bzw. ganz unterbunden. In beiden Fällen lagen also rechtswidrige Arbeitsniederlegungen vor und dem Grunde nach bestand damit jedenfalls ein Schadensersatzanspruch des jeweils bestreikten Arbeitgebers. Ausweislich einer am 25. August 2015 (zum Stuttgarter Fall) veröffentlichten Pressemitteilung des BAG verneinte das BAG einen Eingriff in die Gewerbebetriebe der betroffenen Fluglinien. Der Streik sei jeweils nur gegen die Deutsche Flugsicherung (DFS) gerichtet gewesen.
Bewertung
Die Begründung des BAG – wenn man den Text der Pressemitteilung zugrunde legt – sieht einen Schadensersatz begründenden Eingriff in geschützte Rechte also nur dann als gegeben an, wenn der Eingriff (d.h. Schaden) durch die Handelnden beabsichtigt war. Das überzeugt als Begründung auf mehreren Ebenen nicht.
Zum einen war den streikenden Fluglotsen bei ihrem Streik sehr bewusst, dass ihre Arbeitsniederlegung den Ausfall von Flügen und damit auch finanzielle Nachteile für Fluggesellschaften (und viele weitere Unternehmen) nach sich ziehen würde. Die dramatischen Auswirkungen auf den Luftverkehr sind auch nicht nur unbeabsichtigte Nebenfolge eines Streiks der Fluglotsen, sondern ein wichtiges Druckmittel auf den bestreikten Arbeitgeber. Schon vom Sachverhalt her überzeugt die Begründung daher nicht.
Zum anderen verlangen §§ 823 ff. BGB aber auch keine zielgerichtete Absicht, um die Schadensersatzpflicht auszulösen. Es genügt vielmehr schon Fahrlässigkeit. Demgegenüber handelten GdF und Fluglotsen sogar mit bedingtem Vorsatz (in Kauf nehmen) im Hinblick auf die Schädigung der Fluggesellschaften.
Wenn ein PKW-Fahrer auf einen anderen PKW auffährt, haftet er schließlich nicht nur diesem, sondern auch dessen Passagieren sowie weiteren Unfallbeteiligten (Fußgänger, weiter vorne betroffenen Fahrzeugen) auf Schadensersatz, obwohl er dies nicht gewollt / vorhergesehen hat. Dies gilt jedenfalls so weit, als ein Schadenseintritt in einem gewissen Näheverhältnis (Adäquanz) zur die Haftung auslösenden Handlung steht. Unabsehbare, ungewöhnliche Schadensverläufe sind demnach ausgeschlossen. Der Schadenseintritt bei Lufthansa & Co. bei einem Streik der GdF ist hingegen evident und zwingende Folge eines Ausfalls der Flugsicherung. Das Argument des BAG lässt sich nicht in die Struktur und Systematik der §§ 823 ff. BGB einfügen. Es schafft eine „lex Gewerkschaft“ als Haftungsprivilegierung. Insofern wird es spannend sein, die ausführliche Begründung des BAG zu lesen.
Lösungsvorschlag
Politisch mag eine Haftungsprivilegierung (insbesondere der Spartengewerkschaften) gewünscht sein. Ein Streik der der GdF/VC Cockpit/GdL/UFO betrifft schließlich zwingend und ausnahmslos zahllose „Drittbetroffene“ – Unternehmen und Bürger. Das Risiko eines rechtswidrigen Streiks ist dann schnell existenzbedrohend. Das Risiko rechtswidrigen Handelns muss aber letztlich jeder Bürger, jedes Unternehmen tragen. Es ist der Preis unserer freiheitlichen Gesellschaft. Bei dem derzeit geltenden „Alles oder Nichts“-Prinzip im Streikrecht, wonach der Streik entweder in Gänze zulässig ist (und damit der gesamte Zug-/Flugverkehr ruht) oder rechtswidrig ist, muss es konsequenterweise auch bei der Haftung bei demselben Prinzip bleiben.
Einen Ausweg böte aus Sicht des Autors eine Aufgabe dieses Alles oder Nichts-Prinzips. Wenn einerseits beim Streikrecht eine Einschränkung zugunsten der Drittbetroffenen vorgenommen wird, ist andererseits auch eine Haftungsprivilegierung rechtswidrig Streikender denkbar. Gerade im Bereich der Daseinsvorsorge ist es selbst in (noch) streikfreundlicheren Rechtsordnungen als Deutschland (bspw. Italien) zwingend, dass beide Seiten vor Streikbeginn eine Notversorgung verabreden, rechtzeitig vorab publik machen und gewährleisten. Drittbetroffene Unternehmen und Bürger erhalten also die Möglichkeit, sich rechtzeitig auf den Streik einzustellen und wissen vorab definitiv, welcher Zug, welcher Flug „geht“ und welcher nicht. Dazu bedürfte es aber einer bahnbrechenden Maßnahme: der Gesetzgeber müsste endlich den Mut finden, erstmals die Grenzen des Streikrechts gesetzlich zu regeln.