Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat Anträge des Marburger Bundes, des Deutschen Journalisten-Verbands und der Vereinigung Cockpit auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz abgelehnt (Beschluss vom 06.10.2015 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1582/15, 1 BvR 1588/15). Es fehle an gravierenden, irreversiblen oder nur schwer revidierbaren Nachteilen, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machten. Derzeit sei nicht absehbar, dass den Berufsgewerkschaften bei Fortgeltung des Gesetzes bis zur Entscheidung in der Hauptsache das Aushandeln von Tarifverträgen längerfristig unmöglich würde oder sie im Hinblick auf ihre Mitgliederzahl oder ihre Tariffähigkeit in ihrer Existenz bedroht wären.
Die Entscheidung des BVerfG
Damit bleibt das Gesetz zunächst in Kraft. Überschneiden sich die persönlichen Geltungsbereiche der Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften in einem Betrieb, sind nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, welche in dem Betrieb die Mehrheit hat.
Ganz ohne Trost lässt das BVerfG die Berufsgewerkschaften aber nicht. Dieser Trost besteht zunächst in Hinweisen zum Verfahren. Das Gericht betont in seiner Pressemitteilung zu dem Beschluss, dass der Ausgang in der Hauptsache offen sei. Die Faustregel, dass Hauptsacheverfahren gewöhnlich ebenso ausgehen wie vorangehende einstweilige Anordnungsverfahren, gilt mithin ausdrücklich nicht. Auch strebt das Gericht eine Entscheidung bis Ende 2016 an – will also die Zeit der Ungewissheit, gemessen an der Dauer sonstiger Verfahren, gering halten. Schließlich weist es darauf hin, dass bei einer erheblichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ein erneuter Antrag möglich sei – das Gericht gar ohne solchen Antrag eine einstweilige Anordnung von Amts wegen erlassen könne.
Kollisionsregel greift erst bei gerichtlicher Feststellung des Kollisionsfalls
Gewichtiger sind die tarifrechtlichen und arbeitskampfrechtlichen Maßgaben. Die erste dieser Maßgaben folgt aus einem überraschenden Verständnis der Kollisionsregel. Nach Auffassung des Gerichts greift sie nur und erst, wenn auf Antrag einer der Tarifvertragsparteien der Kollisionsfall gerichtlich festgestellt wird.
Dass ein entsprechender Feststellungsbeschluss vor der in einem Jahr zu erwartenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren rechtskräftig und damit wirksam wird, dürfte kaum vorkommen. So bleibt es in den meisten Fällen zunächst einmal beim Nebeneinander der kollidierenden Tarifverträge, ohne dass der Arbeitgeber geltend machen könnte, er sei aus dem Minderheitstarifvertrag zu nichts verpflichtet.
Rückwirkende Nichtigkeitsfeststellung
Zweite Maßgabe: Wird im Hauptsacheverfahren die Nichtigkeit der Kollisionsregel festgestellt, wirkt dies nach Auffassung des Gerichts ex tunc, sodass verdrängte Tarifverträge auch für die Vergangenheit gelten. Ansprüchen aus diesen Verträgen müsse ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand zwischenzeitlich geschlossener Vereinbarungen angesichts der umfassenden öffentlichen Debatte über die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlich angeordneten Tarifeinheit nicht entgegenstehen.
Praktisch heißt das: Arbeitgeber können nicht auf die abschließende Wirkung des mit einer Mehrheitsgewerkschaft geschlossenen Tarifvertrags vertrauen. Vielmehr sehen sie sich bei Obsiegen der Berufsgewerkschaften im Hauptsacheverfahren zwei einander widersprechenden Tarifverträgen mit sich möglicherweise kumulierenden Belastungen gegenüber. Das wird den Eifer, schon vor der Entscheidung in der Hauptsache auf die Tarifeinheit zu setzen, abkühlen.
Kein Eingriff in die Koalitionsfreiheit durch das Tarifeinheitsgesetz
Zum Arbeitskampfrecht stellt das Gericht fest, dass das Tarifeinheitsgesetz die Zulässigkeit von Maßnahmen des Arbeitskampfes, die grundsätzlich vom Schutz der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz umfasst seien, gar nicht regele. Der allgemeine Hinweis der Gesetzesbegründung, eine Arbeitskampfmaßnahme könne im Einzelfall unverhältnismäßig sein, wenn sie auf Abschluss eines wegen der Kollisionsregel nicht zur Anwendung kommenden Tarifvertrags gerichtet sei, trage schon deshalb nicht, weil der Ausgang des Hauptsacheverfahrens noch offen sei und deshalb nicht ausgeschlossen werden könne, dass das Gesetz mit Wirkung ex tunc für verfassungswidrig erklärt wird.
Ausblick: Minderheitsgewerkschaften können (vorerst) weiter streiken
Bis zur Entscheidung in der Hauptsache können potentielle Minderheitsgewerkschaften also getrost weiter streiken, um ihre Tarifverträge durchzusetzen. Die Möglichkeit, dass das Gericht in der Hauptsache doch zugunsten des Tarifeinheitsgesetzes entscheidet, müssen sie nicht fürchten. Denn das BVerfG geht davon aus, dass die Minderheitsgewerkschaften das Recht haben, bis zur Entscheidung in der Hauptsache ihre tariflichen Ziele zu verfolgen. Jedenfalls aber würde es am Verschulden sowohl der streikenden Arbeitnehmer als auch der Streikführer der Gewerkschaften fehlen.
Davon ganz abgesehen: Auch wenn sich das Tarifeinheitsgesetz letztlich als wirksam erweisen sollte, kann es Streiks von Minderheitsgewerkschaften nicht die Rechtmäßigkeit nehmen, weil diese nach wie vor tarifpolitische Ziele verfolgen ( siehe dazu im Einzelnen Löwisch, Tarifeinheit und die Auswirkungen auf das Streikrecht, DB 2015 S. 1102).