In den letzten Jahren wird das Hauptversammlungsprogramm von Aktiengesellschaften immer häufiger von einer (5%igen) Minderheit beeinflusst. Eine solche Minderheit kann nach § 122 Abs. 2 AktG verlangen, dass bestimmte Punkte und Beschlussvorschläge auf die Tagesordnung gesetzt werden, oder es findet gar die Versammlung selbst gem. § 122 Abs. 1 AktG auf Verlangen der Minderheit statt. Kommt der Vorstand einem entsprechenden Verlangen nicht nach, so kann die Minderheit gem. § 122 Abs. 3 AktG ihr Verlangen gerichtlich durchsetzen.
Jüngst berichteten Grunewald und Schatz in Heft 19 der AG 2015 über eine ganze Reihe von Fällen, in denen dem Verlangen der Minderheit zunächst nachgegeben wurde, diese auf der entsprechenden Hauptversammlung dann aber eine böse Überraschung erlebte: Entweder ließ der Versammlungsleiter über den schon bekannt gemachten Beschlussvorschlag der Minderheit nicht abstimmen oder der Vorstand sagte gleich die ganze Versammlung wieder ab.
Geschieht diese Absage früh genug, so kann die Minderheit anschließend das Gericht anrufen und ggf. später selbst die HV einberufen. Nach ganz h.M. mutet das Gesetz die mit einer solchen gerichtlichen Entscheidung verbundene Verzögerung der Minderheit zu, wie der BGH ausführlich noch einmal darlegt (Rn. 23 ff.). Ob das richtig ist, sei hier einmal dahingestellt – Zweifel bestehen deshalb, weil die zunächst erfolgende Einberufung und spätere Absage die Minderheit dann im praktischen Ergebnis schlechter stellt als die sofortige Ablehnung des Verlangens.
Die Entscheidung des BGH
In der Konstellation, die der Entscheidung des BGH (Urteil vom 30.06.2015 – II ZR 142/14, DB 2015 S. 2504) zugrundelag, bestand die Besonderheit nun darin, dass die Absage durch den Vorstand erst erfolgte, als sich die Aktionäre bereits am Versammlungsort eingefunden hatten. In diesem Sonderfall spricht der BGH nun dem Vorstand die Kompetenz zur Absage der Versammlung ab, weil sich die an dem in der Einberufung bestimmten Tag der Hauptversammlung am Versammlungsort erschienenen Aktionäre nach einer Einlasskontrolle im Versammlungsraum eingefunden haben und der Zeitpunkt des in der Einberufung angegebenen Beginns der Hauptversammlung bereits überschritten war. Auf eine im Gesetz nicht verankerte förmliche Eröffnung der HV komme es hingegen nicht an. Nach Auffassung des BGH hatte also die Absage keine „dingliche“ Wirkung mehr.
Sie führte aber tatsächlich dazu, dass einige Aktionäre nach der Absage den Saal verließen, angeblich weil sie auf die Wirksamkeit der Absage vertrauten. Damit sei ihr Teilnahmerecht beeinträchtigt, zumal der satzungsmäßig berufene Versammlungsleiter nicht anwesend war. Die verbliebenen Aktionäre hielten gleichwohl die ihrer Auffassung nach eben nicht wirksam abgesagte Hauptversammlung ab. Doch sind nach der Entscheidung des BGH die nachfolgend gefassten Beschlüsse wegen Verletzung der Teilnahmerechte der gegangenen Aktionäre gem. § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar. Und diese Anfechtbarkeit dürfe auch der Vorstand geltend machen, selbst wenn sie letztlich auf seiner Kompetenzüberschreitung beruhe (Rn. 46). Auch ein rechtsmissbräuchliches Verhalten (des anfechtenden Vorstands) verneint der BGH: Angesichts des Meinungsstandes zum „Beginn der Hauptversammlung“ sei die Auffassung des Vorstands, er könne noch wirksam absagen, zwar falsch, aber nicht unhaltbar (Rn. 51) und daher auch nicht missbräuchlich.
Kritik
Nähme man das Urteil beim Wort, so bedeutete das: die Minderheit kann hier nicht einmal einen Antrag nach § 122 Abs. 3 AktG auf gerichtliche Ermächtigung stellen. Denn dieser Antrag setzt ja die Ablehnung des Verlangens der Minderheit oder eben eine spätere Absage der einmal einberufenen Versammlung voraus. Aber hier war die HV nicht wirksam – sondern eben nur: unwirksam – abgesagt. Daher müsste die Minderheit erneut ein Verlangen nach § 122 Abs. 1 AktG stellen und der Vorstand könnte das Spielchen endlos wiederholen, ohne dass es jemals den gesetzlich vorgesehenen Ausgang für die Minderheit nähme – lässt man einmal § 242 BGB außen vor, der irgendwann dem Spuk ein Ende setzte.
Der BGH hätte hier vielmehr die Konsequenzen aus seinen vorherigen Erwägungen ziehen müssen. Ist die Hauptversammlung nicht abgesagt, so muss gelten: hic Rhodos, hic salta. Eine Verletzung des Teilnahmerechts der Aktionäre, die in Fällen wie diesem ja letztlich freiwillig gehen, ist zu verneinen: Dass irgendjemand unwirksame Verfahrenshandlungen vornimmt, müssen die Anwesenden stets hinnehmen, ohne deshalb gleich zur Anfechtung berechtigt zu sein. Schließlich endet ein Fußballspiel ja auch nicht, nur weil ein Zuschauer eine Trillerpfeife dabei hat und zum Abpfiff benutzt. Und nach Beginn der Versammlung war der Vorstand eben nur noch Zuschauer. Alles andere verstieße gegen das Selbstorganisationsrecht der Hauptversammlung. Wenn z.B. der aus wichtigem Grund abgewählte Versammlungsleiter anschließend bekannt gibt, dann sei die Hauptversammlung „eben jetzt zu Ende“, kann dies nicht die vom rechtmäßig gewählten Versammlungsleiter durchgeführte Versammlung und Beschlussfassung anfechtbar machen. Das muss auch gelten, wenn einige Aktionäre das nicht wissen und einfach gehen. Richtigerweise tun sie das auf eigenes Risiko.
Zum Thema Hauptversammlung vgl. auch:
Riecker, Nachlese zur Hauptversammlungssaison 2015 und Ausblick auf 2016, DB 2015 S. 2131
Wicke, Gemischte Protokollierung der Hauptversammlung einer nichtbörsennotierten AG, DB 2015 S. 1770
Goslar, Anforderungen an satzungsmäßige Bestimmung eines Hauptversammlungsortes im Ausland, DB 2015 S. 178