Verstößt die deutsche Unternehmensmitbestimmung gegen EU-Recht?

RA/FAArbR Dr. André Zimmermann LL.M., Partner, Orrick, Herrington & Sutcliffe LLP, Düsseldorf/München

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Der EuGH berät über die Europarechtskonformität der deutschen Unternehmensmitbestimmung, genauer: über die Beschränkung des aktiven und passiven Wahlrechts für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat auf Arbeitnehmer, die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind (Rs. C-566/15 – Erzberger). Am 24.1.2017 hat die mündliche Verhandlung in Luxemburg stattgefunden; eine Entscheidung wird im Sommer erwartet. Was würde eine Europarechtswidrigkeit für die Aufsichtsräte deutscher Unternehmen bedeuten?

Das deutsche Statusverfahren vor dem KG Berlin

Ein Aktionär des Reisekonzerns TUI ist der Auffassung, dass der Aufsichtsrat nicht korrekt zusammengesetzt ist. In Deutschland hat TUI rund TUI 10.000 Mitarbeiter in Deutschland, in Konzernunternehmen in anderen EU-Mitgliedstaaten etwa 40.000 Mitarbeiter. Nach bisher überwiegendem Verständnis des deutschen Rechts, hier des Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG), steht den Mitarbeitern im Ausland weder das aktive noch das passive Wahlrecht zu: Sie können weder selbst die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wählen noch sich selbst zur Wahl stellen. Der Aktionär sieht hierin eine nicht gerechtfertigte Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) und eine unzulässige Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV).

Vorlagefrage des KG Berlin

Das KG Berlin (Beschluss vom 16.10.2015 – 14 W 89/15) hält einen Verstoß für möglich (zuvor schon bejahend: LG Frankfurt, Beschluss vom 15.2.2015 – 3-16 O 1/14, n.rk.; anders: OLG Zweibrücken, Beschluss vom 20.2.2014 – 3 W 150/13), LG München I, Beschluss vom 27.8.2015 – 5 HK O 20285/14). Es hat das von dem Aktionär angestrengte Statusverfahren ausgesetzt und dem EuGH die Frage vorgelegt, ob es „mit Artikel 18 AEUV (Diskriminierungsverbot) und Artikel 45 AEUV (Freizügigkeit der Arbeitnehmer) vereinbar [ist], dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsgremium eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern einräumt, die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind“ (vgl. auch den früheren Blog-Beitrag).

Arbeitnehmer, so die Begründung, könnten durch die deutschen Mitbestimmungsregelungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Bei unternehmerischen Entscheidungen, an denen der Aufsichtsrat beteiligt sei und die über das Inland hinauswirkten, bestehe die Gefahr, dass einseitig die Interessen der im Inland beschäftigen Arbeitnehmer berücksichtigt würden. Das sei vorliegend von besonderem Gewicht, da rund 4/5 der Arbeitnehmer im Ausland tätig seien. Auch könne das Recht auf Freizügigkeit beeinträchtigt sein, da Arbeitnehmer wegen des drohenden Verlusts ihrer Mitgliedschaft in einem Aufsichtsorgan davon abgehalten werden könnten, einen Arbeitsplatz in anderen EU-Mitgliedstaaten anzunehmen.

Die unterschiedlichen Auffassungen

Die EU-Kommission vertrat in dem Verfahren bislang die Auffassung, dass eine Beschränkung des aktiven und passiven Wahlrechts dann mit Blick auf die garantierte Arbeitnehmerfreizügigkeit mit Unionsrecht unvereinbar ist, wenn das Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer so gestaltet ist, dass auch Sachverhalte erfasst sind, die bei objektiver Betrachtung sowohl im selben Mitgliedstaat als auch in einem anderen Mitgliedstaat vorliegen können.

Überraschend hat die Kommission in der gestrigen Verhandlung eine andere Auffassung vertreten: Arbeitnehmermitbestimmung sei ein wichtiges Ziel. Jede daraus möglicherweise resultierende Beschränkung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern könne durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden, das System der Mitbestimmung und dessen soziale Ziele zu schützen. Die bestehenden deutschen Vorschriften könnten daher als mit dem EU-Recht vereinbar angesehen werden.

Die Bundesregierung verteidigt ebenso wie Gewerkschaften und Arbeitgebervertreter (in einer gemeinsamen Erklärung!) die in Deutschland geltende Rechtslage. Sie vertreten die Auffassung, dass die Regelungen zur Besetzung des Aufsichtsrates nach dem MitbestG nicht gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstoßen (vgl. Pressemitteilung von verdi vom 24.1.2017).

Schlussanträge des Generalanwalts im Mai – Urteil im Juli 2017

Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für 4. Mai 2017 angekündigt. Die Entscheidung selbst ist nicht vor Juli 2017 zu erwarten. Auch wenn der Gerichtshof nicht an die Anträge des Generalanwalts gebunden ist, folgt er ihnen in der Praxis oft, so dass schon Anfang Mai 2017 abzusehen sein kann, wie die Entscheidung ausfällt.

Folgen einer Europarechtswidrigkeit für die Aufsichtsräte in Deutschland

Sollte der EuGH die Regelungen für unionsrechtswidrig halten, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen dies auf die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat multinationaler Unternehmen hätte.

Hier wird sich zunächst die Frage stellen, ob eine unionsrechtskonforme Auslegung des MitbestG möglich ist. Ein ersatzloser Wegfall der Mitbestimmung – Unanwendbarkeit des MitbestG wegen Verstoßes gegen EU-Recht – ist schon aus politischen Gründen sehr unwahrscheinlich. Das System der Unternehmensmitbestimmung wäre daher wahrscheinlich nicht grundsätzlich in Frage gestellt, müsste aber modifiziert werden, um mit Unionsrecht im Einklang zu kommen. Auch wenn die Entscheidung nur das MitbestG betreffen würde, wird für das DrittelbG nichts anderes gelten können.

In der Praxis würde sich die Durchführung eines EU-weiten Wahlverfahrens auf Grundlage der (unveränderten) deutschen Vorschriften als nahezu undurchführbar erweisen. Jedenfalls aber würde das ohnehin schon komplizierte Wahlverfahren noch fehleranfälliger. Für die Unternehmenspraxis wäre zu hoffen, dass der deutsche Gesetzgeber in einem solchen Fall zeitnah die gesetzlichen Voraussetzungen für EU-weite Wahlen schafft.

Das Wahlverfahren wäre so auszugestalten, dass Arbeitnehmer in Konzerngesellschaften im EU-Ausland unter denselben Voraussetzungen wir ihre deutschen Kollegen wählen dürfen und sich selbst zur Wahl stellen dürfen. Mit Blick auf die politische Dimension dieses Vorhabens – der Arbeitsrechtler weiß, dass selbst ganz geringfügige Gesetzesänderungen, die wegen Unionsrechtswidrigkeit erforderlich sind, seit Jahren nicht umgesetzt werden – und die anstehenden Bundestagswahlen ist damit aber kaum zu rechnen.

Bereits gewählte Arbeitnehmervertreter müssten nicht mit einem sofortigen Verlust ihres Mandats rechnen. Vielmehr müssten zunächst Statusverfahren durchgeführt werden.

Berücksichtigung für die Schwellenwerte?

Folgefrage wird sein, ob die Mitarbeiter in Konzernunternehmen im EU-Ausland auch für die Schwellenwerte von 500 (DrittelbG) und 2.000 (MitbestG) regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmern zählen. Das ist zwar nicht Gegenstand des Vorlageverfahrens, wird aber sehr wahrscheinlich zu bejahen sein, wenn der EuGH einen Verstoß gegen Unionsrecht annimmt. Das LG Frankfurt (Beschluss vom 15.2.2015 – 3-16 O 1/14, n.rk.) hat das bereits vor zwei Jahren so gesehen (vgl. dazu den Blog-Beitrag des Autors). Das Beschwerdeverfahren vor dem OLG Frankfurt ist derzeit ausgesetzt im Hinblick auf das vorliegende Vorabentscheidungsverfahren (Beschluss vom 17.6.2016 – 21 W 91/15).

Für viele mittelständische Unternehmen könnte eine Zurechnung der Arbeitnehmer ausländischer Tochtergesellschaften erstmals einen mitbestimmten Aufsichtsrat bedeuten. Bei größeren Unternehmen kann die neue Zählweise aus der Drittelmitbestimmung nach dem DrittelbG künftig eine paritätische Mitbestimmung nach dem MitbestG machen. Selbst bei Unternehmen, die bereits heute dem MitbestG unterliegen, könnte eine Rechtskraft der Frankfurter Entscheidung Veränderungen mit sich bringen. Schließlich richtet sich die Größe des Aufsichtsrats nach der Zahl der zu berücksichtigenden Arbeitnehmer (§ 7 MitbestG).

Mit Blick hierauf werden Unternehmen Restrukturierungen prüfen. Nicht unwahrscheinlich, dass die in Deutschland ohnehin beliebte SE als Gesellschaftsform noch attraktiver wird.

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