In der Lehman-Krise wurde der Überschuldungsbegriff nachhaltig aufgeweicht. Man befürchtete, dass durch eine temporäre Wertreduktion etwa von Anleihen und Aktien eine Überschuldung eintreten könnte und damit die Finanzinstitute zum Insolvenzantrag verpflichtet würden – also ein Dominoeffekt eintritt. Zehn Jahre später sind die Insolvenzantragpflichten in der Finanzwirtschaft gesondert, das heißt spezialgesetzlich geregelt. Es gibt keine Veranlassung mehr, die Überschuldung als Insolvenzantragsgrund auch zukünftig durch eine Prognoseentscheidung der Geschäftsleiter praktisch auszuschließen. Es bietet sich an, zum alten Überschuldungsbegriff zurückzukehren.
Diesen Ansatz untermauert auch ein aktuelles Gutachten. Prof. Dr. Reinhard Bork (Universität Hamburg) kommt in seinem Gutachten „Zum Stand der Diskussion um den Überschuldungstatbestand und zum Vorschlag einer Rückkehr zum Überschuldungstatbestand von 1999“ zu dem Ergebnis, dass die Rückkehr zum alten Überschuldungstatbestand erforderlich ist, um Friktionen und volkswirtschaftliche Verwerfungen zu beheben. Insbesondere könne so für Sanierungsfälle eine sachgerechte Abgrenzung zwischen der am Schuldnerinteresse orientierten präventiven Restrukturierung und der am Gläubigerinteresse orientierten Sanierung in einem Insolvenzverfahren gelingen.
Unternehmen in der Krise: Turnaround oder Marktaustritt statt Weiterwirtschaften
Eine Insolvenz fällt nicht vom Himmel. Sie ist die letzte Stufe einer wirtschaftlichen Krise. Vorausgegangen sind die bekannten Krisenstufen, die letztlich in die Liquiditätskrise münden. Wenn die Gesellschaft nachhaltig Verluste realisiert, muss sie rechtzeitig in den Turnaround gehen oder den Markt verlassen. Ein verlustreiches Weiterwirtschaften, ohne dass die Verluste ein „Investor“ trägt, führt zu einer Insolvenzverschärfung und einer Übertragung des Fortführungsrisikos auf die Vertragspartner des Schuldners. Dem Vertragspartner ist jedoch in einer solchen Konstellation das Risiko in der Regel weder bekannt noch kann er es steuern.
Wenn der Geschäftspartner oder Kunde wüsste, dass seinem Vertragspartner die Insolvenz droht, würde er entweder mit ihm nicht kontrahieren und/oder Absicherungen verlangen. Wenn eine überschuldete Kapitalgesellschaft weiter Verluste realisiert, die nicht gedeckt sind, ist die Grenze zum Eingehungsbetrug fließend.
Die großen Insolvenzen etwa von Air Berlin und Thomas Cook zeigen, dass die Gesellschaften schon lange überschuldet waren oder Freihaltevereinbarungen nicht griffen. Trotzdem setzten beide Unternehmen – in der Hoffnung auf ausreichende zukünftige Liquidität – die Geschäfte fort. Bei der Schöpfung von Liquidität war man kreativ. Lohn- bzw. Arbeitszeitkonten wurden ebenso genutzt wie zum Teil sogar ungenehmigte Lieferantenkredite. Die Unternehmen gaben Anleihen aus und nutzten in großem Umfang die Vorkasse. Diese Liquiditätsschöpfung, die Elemente eines Schneeballsystems enthielt, bewirkt, dass zahlreiche weitere Kunden, Arbeitnehmer, Sozialversicherungsträger und das Finanzamt in der Insolvenz die Kosten tragen.
Unbedingte Insolvenzantragspflicht bei Überschuldung
Die Insolvenz dient rechtstechnisch der Verteilung von Verlusten. Erfolgt kein rechtzeitiger Turnaround oder Marktaustritt, sollte eine Kapitalgesellschaft das Haftungsprivileg verlieren. Handlung und Haftung gehören zusammen. Der Unternehmer trägt das Risiko und die entsprechenden Ertragschancen. In der sozialen Marktwirtschaft kann er sich nicht von den Risiken zulasten der Allgemeinheit freizeichnen und nur die Erträge vereinnahmen. Mit der Rückkehr zur unbedingten Insolvenzantragspflicht bei Überschuldung blieben der Wirtschaft erhebliche Verluste durch Bankrottstraftaten erspart. Diese Rückkehr ist durch einen verstärkten zivil- und strafrechtlichen Verfolgungsdruck zu verstärken.