Im Streit unter Aktionären spielt oft eine Rolle, wer wann eine Hauptversammlung einberufen kann und mit welchen Gegenständen der Tagesordnung. Das hochformalisierte Verfahren ist tückisch für beide Seiten. Ein illustrer Sachverhalt liegt einem neuen BGH-Urteil zugrunde (v. 14.7.2020, II ZR 255/18). Es handelt sich um die Karwendelbahn AG, Deutschlands zweithöchste Bergbahn in Mittenwald. Der größte Aktionär mit fast der Hälfte der Stückaktien ist die Konsortium AG, der zweitgrößte Aktionär mit knapp einem Drittel ist die bayerische Gemeinde Markt Mittenwald. Beide liefern sich seit Jahren erbitterte Auseinandersetzungen, deren Hintergrund für Außenstehende schwer zu erfassen ist (s. hier). Im Juni 2016 hat die Großaktionärin Konsortium AG die Einberufung einer Hauptversammlung verlangt, der Vorstand kam diesem Verlangen nach und berief die HV auf Ende Juli ein. Die Gemeinde Mittenwald beantragte noch im Juni die Ergänzung der Tagesordnung um die Beschlussfassung über Sonderprüfungen. Dieses Verlangen behandelte der Vorstand nicht, weshalb die Gemeinde eine gerichtliche Ermächtigung erwirkte, den Gegenstand bekanntzumachen (§ 122 Abs. 3 S. 1 AktG). Dies geschah am 25.7.2016 im Bundesanzeiger. Allerdings musste am selben Tag (!) auch die Anmeldung zur HV bei der AG eingegangen sein.
Der II. Zivilsenat hält das für zu knapp: „Die aufgrund einer gerichtlichen Ermächtigung der Minderheitsaktionäre auf die Tagesordnung zu setzenden Gegenstände müssen bei einer nicht börsennotierten Aktiengesellschaft so rechtzeitig bekanntgemacht werden, dass die Aktionäre ausreichend Zeit haben, sich mit der ergänzten Tagesordnung zu befassen, darüber zu befinden, ob sie an der Hauptversammlung teilnehmen wollen, und die Teilnahmevoraussetzungen zu erfüllen.“ (Leitsatz der für die amtliche Sammlung bestimmten Entscheidung). „Die nach der Bekanntmachung im Verlauf des letzten Tages, an dem eine Anmeldung möglich war, verbleibende Zeitspanne war zu kurz, um den Aktionären die Befassung mit der ergänzten Tagesordnung und die Entscheidung über eine Teilnahme zu ermöglichen, noch eine Stimmkarte zu beantragen sowie den Hinterlegungsanforderungen nachzukommen.“
Diesen Ausführungen zu § 122 AktG kann man gerne zustimmen – doch darum soll es hier nicht gehen, sondern um die Folgen und um ein Unbehagen. Die Folge der zu knappen Bekanntmachung war die Nichtigerklärung der Beschlüsse über die Sonderprüfung (damals gefasst wohl wegen des Ausschlusses der Großaktionärin vom Stimmrecht). Die Anfechtungsklage wurde von der Großaktionärin erhoben, deren Verflechtung mit dem Vorstand der AG untersucht werden sollte. Hier fällt auf, dass es eben dieser Vorstand war, der das Ergänzungsverlangen zur TO ignorierte und die Minderheitsaktionärin zum zeitraubenden Weg über das Amtsgericht zwang, was die Verspätung hervorrief (s. dazu auch Rn. 40 des Urteils).
Der BGH erklärt, dass die Minderheit dann bei der nächsten Hauptversammlung von dieser gerichtlichen Ermächtigung noch Gebrauch machen könne (Rn. 21), damit eine bislang im Schrifttum umstrittene Frage klärend.
Spannender als dieser taktische Hinweis ist die Grundfrage, wieso überhaupt die Großaktionärin klagen kann, wenn es doch um die Verletzung der Informationsinteressen der übrigen Aktionäre geht. Die Großaktionärin beklagt mithin gar keine eigene Rechtsverletzung, sie wusste Bescheid. Flechtheim hätte seine Freude gehabt: Der Anfechtungskläger sei „der geborene Anwalt der beleidigten Interessen aller und jedes einzelnen Aktionärs“ (FS Zitelmann, 1913, S. 1, 5). Dass die von dem Informationsmangel betroffenen Aktionäre selbst hätten anfechten können (s. § 245 Nr. 2 Alt. 3 AktG), spielt da keine Rolle mehr. Der BGH referiert die eigene Rechtsprechung ausführlich (Rn. 33), die sich auf die in den sechziger Jahren in der Literatur (W. Zöllner, Stimmrechtsschranken, 1963) entwickelte Relevanzlehre bezieht: Genügend sei die – hier erkannte – Relevanz des Verfahrensverstoßes für das Mitgliedschafts- bzw. Mitwirkungsrecht eines objektiv urteilenden Aktionärs.
So kommt es, dass die Großaktionärin einen ihr lästigen Beschluss zu Fall bringen kann, wobei „ihr“ Vorstand am Fehlergrund nicht unbeteiligt war – dies gestützt auf die Rechtsbeeinträchtigung potentiell anfechtungsbefugter Drittaktionäre. Und daher verspürt man Unbehagen an diesem nach herkömmlicher Lehre durchaus korrekt gelösten Fall. – Zur Anfechtungsbefugnis nur bei eigener Rechtsverletzung s. Noack/Zetzsche im Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2017, vor § 241 Rn. 83, zur Relevanzlehre dies. § 243 Rn. 64 ff. sowie Drescher in einer im November 2020 zu überreichenden Festschrift.