Das BAG hat am 24.06.2021 ein weit reichendes Urteil zur häuslichen Pflege durch ausländische Betreuungskräfte gefällt (5 AZR 505/20). Wie sich aus der Pressemitteilung des Gerichts (PM 16/21) ergibt, trifft der Spruch zwei Aussagen:
- Auch von einem Dienstleistungsunternehmen aus dem Ausland entsandte Betreuungskräfte haben als Arbeitnehmer Anspruch auf den deutschen gesetzlichen Mindestlohn.
- Zu den geleisteten Arbeitsstunden gehört dabei auch Bereitschaftsdienst, der darin bestehen kann, dass die Betreuungskraft im Haushalt der zu betreuenden Person leben muss und grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tages- und Nachtzeiten im Bedarfsfalle zur Verfügung zu stehen.
Welche finanzielle Dimension das Urteil hat, zeigt der entschiedene Fall: Nach ihrem Arbeitsvertrag hatte die in Bulgarien angestellte Betreuungskraft an fünf Tagen in der Woche (Montag bis Freitag) insgesamt 30 Stunden zu arbeiten und erhielt dafür eine monatliche Vergütung von 950 € netto plus freies Logis und freie Verpflegung. Das LAG Berlin-Brandenburg als Vorinstanz ist in seinem Urteil vom 17.08.2020 (21 Sa 1900/19) im Wege einer Schätzung aber davon ausgegangen, dass die Betreuungskraft wegen des Bereitschaftsdienstes an ihren Arbeitstagen jeweils 21 Stunden zur Verfügung stehen musste und dementsprechend auch für 21 Stunden Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn hatte. Legt man den ab 1. Juli 2021 geltenden gesetzlichen Mindestlohn von 9,60 € zugrunde, sind das bei einer Fünftagewoche monatlich 4.368 € brutto, also rund das Vierfache. Mit dem ab 1. Juli 2022 geltenden Mindestlohn von 10,45 € sind es monatlich 4.754,75 € brutto und bei dem im laufenden Bundestagswahlkampf zum Teil geforderten Mindestlohn von 12,50 € wären es monatlich 5.687,50 € brutto.
Entscheidung des BAG
Nun hat das BAG die Sache zwar an das LAG mit dem Auftrag zurückverwiesen, die Zahl der einschließlich des Bereitschaftsdienstes pro Tag geleisteten Arbeitsstunden und ebenso die Zahl der verbliebenen freien Stunden genauer zu eruieren. Aber große Veränderungen sind davon nicht zu erwarten. Ist wie im entschiedenen Fall eine 90Jährige rund um die Uhr zu betreuen, muss die Betreuungskraft bei Bedarf auch jederzeit rasch bereit stehen können.
Bliebe es ohne Änderung bei den vom BAG aufgestellten Grundsätzen, wirkte sich das gravierend auf die häusliche Pflege aus: Nur Reiche würden sich die auf das Vier- oder Fünffache gestiegenen Kosten leisten können. Allen anderen bliebe nur der Weg ins durchorganisierte und damit wirtschaftlichere Pflegeheim. Auch dort würde ihnen natürlich in aller Regel angemessene Betreuung zuteil. Verloren ginge aber das hohe Gut der Selbstbestimmung über die eigene Lebensweise. Diesen Verlust nicht zu begünstigen, sondern tunlichst zu verhindern ist Aufgabe einer von der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Absatz 1 Grundgesetz) geprägten Rechtsordnung.
Von der Pflegeversicherung kann dabei allenfalls teilweise Abhilfe erwartet werden. Das Pflegegeld so zu erhöhen, dass es auch die vom BAG geforderte Bereitschaftsdienstvergütung voll abdeckt, erscheint unrealistisch. Notwendig ist deshalb deren gesetzliche Korrektur. An der Wertung des Bereitschaftsdienstes als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitsschutzrechts kann diese nicht ansetzen. Auf sie ist das deutsche Recht nach der Rechtsprechung des EuGH durch Art. 15 in Verbindung mit Art. 2 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG festgelegt (EuGH vom 21.02.2018, C-518/15).
Nicht unverrückbar ist aber die volle Vergütung des häuslichen Betreuungsdienstes mit dem gesetzlichen Mindestlohn. Eine Vorgabe des europäischen Rechts besteht insoweit nicht, weil, wie der EuGH in der zitierten Entscheidung festgestellt hat, die Regelung der Arbeitsvergütung und damit auch die Vergütung von Bereitschaftsdienst nach Art. 153 Abs. 5 AEUV den Mitgliedsstaaten vorbehalten ist.
Auch das durch Gesetz vom 27. 6. 2013 (BGBl II 922) ratifizierte ILO Übereinkommen Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte, auf das das LAG Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 17. 8. 2020 hingewiesen hat, steht nicht entgegen. Zwar meint das LAG, das Abkommen habe Deutschland auf die Geltung des allgemeinen Begriffs des Bereitschaftsdienstes festgelegt. Indessen gibt der vom LAG ins Feld geführte Art. 10 Nr. 3 des Übereinkommens das nicht her. Wenn danach Zeiten, in denen Hausangestellte nicht fei über ihre Zeit verfügen können und sich zur Verfügung des Haushalts halten, um möglichen Anforderungen Folge zu leisten, „insoweit“ als (zu vergütende) Arbeitszeiten anzusehen sind wie dies durch innerstaatliche Rechtsvorschriften oder in Gesamtarbeitsverträgen festgelegt ist, soll das Sonderregelungen für Hausangestellte gerade ermöglichen. Die vom LAG nicht berücksichtigte Denkschrift der Bundesregierung zum Entwurf des Ratifizierungsgesetzes (Bundestagsdrucksache 17/12951) hat klargestellt, dass das Übereinkommen mit dieser Bestimmung die Beantwortung der Frage , ob und in welchem Umfang inaktive Zeiten, in denen sich die Hausangestellten zur Verfügung des Arbeitgebers halten müssen, als Arbeitszeiten anzusehen sind, „ausdrücklich“ den Mitgliedsstaaten bzw. den Sozialpartnern überlässt. Auch aus Art. 11 des Übereinkommens folgt nichts anderes.
Seine so ausdrücklich vorbehaltene Befugnis könnte der Gesetzgeber für eine angemessene Regelung nutzen. Diese könnte darin bestehen, die in der häuslichen Pflege anfallende Betreuungsbereitschaft nur zur Hälfte als vergütungspflichtige Arbeitszeit zu rechnen. Das würde zu ausgewogenen Ergebnissen führen: Fielen wie im Fall des BAG in einer Fünftagewoche je Tag sechs Stunden volle Arbeitszeit und, wie vom LAG unterstellt, weitere 15 Stunden Betreuungsbereitschaft an, ergäbe sich eine zu vergütende Arbeitszeit von 13,5 Stunden. Die Vergütung betrüge dann bei dem derzeit geltenden Mindestlohn von 9,60 € pro Tag 129,60 €. Umgerechnet liefe das auf eine Monatsvergütung von 2.808 € hinaus, von der noch der Gegenwert von Logis und Verpflegung abgezogen werden könnte. Eine solche Pauschalierung würde auch komplizierte Beweiserhebungen erübrigen, wie sie das BAG dem LAG aufgegeben hat.
Eine entsprechende Regelung könnte als Sondervorschrift in das Mindestlohngesetz eingefügt werden. Alternativ könnte den Tarifvertragsparteien das Recht eingeräumt werden, die Wertung von Betreuungszeiten als vergütungspflichtige Arbeitszeit zu regeln.
Fazit
Die Rechtsprechung zur Arbeit in der häuslichen Pflege muss nicht notwendig den Gang ins Pflegeheim zur Folge haben. Vielmehr ist es Sache des Gesetzgebers, eine ausgewogene Regelung der Arbeitsverhältnisse der häuslichen Betreuungskräfte zu treffen. Das europäisches Recht und das Recht der ILO lassen dafür den notwendigen Spielraum.