Klimaschutz ist längst kein bloß politisches Phänomen mehr. Die Gerichte sind zunehmend gefordert, Klimaschutzrecht zu sprechen: Eine von der Columbia-Universität betriebene Datenbank listet derzeit 435 gegen Staaten gerichtete und 64 gegen Unternehmen Klimaschutzklagen auf. Sechs solcher Klagen hatten bekanntermaßen jüngst vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg. In seiner Klimaschutzentscheidung stellt das Gericht fest, dass die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aber auch die Staatszielbestimmung des „Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen“ (Art. 20a GG) den Staat zwingen, planend mit geeigneten, erforderlichen und angemessenen Instrumenten einzugreifen.
Hierbei sei er zwar nicht auf aufgrund der Schutzpflichtfunktion der Grundrechte aber doch aufgrund einer „eingriffsähnlichen Vorwirkung“ verpflichtet, 2030 noch ein Restbudget vorzuhalten, das die künftigen Generationen nicht zu einer späteren „Vollbremsung“ veranlasse. Die Vorgaben des Pariser-Klimaschutzabkommens, das Erreichen von Kipppunkten sowie die Unumkehrbarkeit des Klimawandels erkennen die Verfassungsrichter des 1. Senats als berechenbare Tatsachen an. Klimaschutz wird zum mathematisierbaren Fakt!
Demgegenüber ist die Shell-Entscheidung des Bezirksgerichts Den Haag vom 26. Mai 2021 unternehmensgerichtet: Den Klägern wird gegen Shell ein deliktsrechtlicher, aus unerlaubter Handlung resultierender Anspruch zuerkannt, wonach das Unternehmen seine Treibhausgasemissionen um 45% bis 2030 im Vergleich zu 2019 reduzieren muss. Grundlage seien ungeschriebene „eigenständige Sorgfaltspflichten“ des Unternehmens, die aus der mittelbaren Drittwirkung des in der Europäischen Menschenrechtskonvention statuierten Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit resultierten. Diese klimabezogenen Sorgfaltspflichten umfassten sogar den Klimaschutz in der kompletten Lieferkette. Vorhandenen Genehmigungen nach dem Emissionshandelsrecht wird keine Legalisierungswirkung zuerkannt.
Der in Deutschland anhängige Fall des peruanischen Kleinbauers Saúl Luciano Lliuya geht einen Schritt weiter. Er fordert von RWE anteiligen Schadensersatz auf der Grundlage folgender Kausalkette: RWE trage, mathematisch nachweisbar, mit seinen Treibhausgasfestsetzungen in Höhe von 0,47 Prozent zur Klimaerwärmung bei, diese verursachten eine Gletscherschmelze, aus der wiederum das Anschwellen des benachbarten Gletschersees folge, was ihn zu investiven Schutzmaßnahmen zwinge, um sein Gehöft vor Überflutungsgefahren zu bewahren. Während das Landgericht Essen einen Mitverursachungsbeitrag von RWE wegen der hohen Zahl der Emittenten und der Durchmischung der einzelnen Treibhausgase in der Atmosphäre verneint hatte, eröffnete das OLG Hamm, von vielen damals noch belächelt, im November 2017 im Berufungsverfahren die Beweisaufnahme: Die Klage sei insoweit schlüssig. Zur Beweisaufnahme in Peru kam es bislang coronabedingt bislang nicht, sie steht allerdings kurz bevor.
Der Ausgang dieses Verfahrens ist ebenso offen, wie die die übrigen 498 anhängigen Klimaschutzklagen weltweit. Dasselbe gilt für die Klagen der Deutschen Umwelthilfe gegen unterschiedliche Automobilhersteller. Dass Art und Maß der öffentlich-rechtlichen Anforderungen an emissionsintensive Unternehmen drastisch steigen werden, gleichgültig wer in Berlin künftig regiert, ist eine Binsenweisheit. Undurchsichtig ist die Situation für Unternehmer im Industrieland Deutschland, die bei nebulöser Rechtslage auf Sicht navigieren, auf trittunsicherer Grundlage ihre „ungeschriebenen“ klimabezogenen Sorgfaltspflichten einschätzen, hierauf aber konkrete Minderungspläne mit zielgenauen Reduktionspfaden erstellen müssen. Ob behördliche Genehmigungen nach dem Emissionshandelsrecht Legalisierungswirkung entfalten, ist ebenso ungewiss, wie die Erfolgsaussichten von Privatklägern, die Schadensersatz für klimaschutzbedingte Investitionen gegen emissionsintensive Unternehmen geltend machen. Freundliches Investitionsklima klingt anders! Rechtsklarheit schaffen im Balanceakt zwischen Industrie und Klima erweist sich als Zukunftsgebot und Kunst. Die Lieferketten-Gesetzgebung der EU mit der Festschreibung klimabezogener Sorgfaltspflichten werden erst der Auftakt sein.