Die selbstverfasste Anwaltschaft ist mit Unterstützung des BGH auf ihrem Weg zur Liberalisierung des Berufsrechts entgegen den Plänen des Gesetzgebers und des Bundesjustizministeriums einen Schritt rückwärts gegangen. Zweigstellen dürfen – wie der Anwaltssenat des BGH jüngst bestätigt hat – ab dem 1. 1. 2011 nur errichtet werden, wenn sie sich nicht in einer bloßen Geschäftsadresse erschöpfen, sondern der Rechtsanwalt in einem festen Büro gewöhnlich angetroffen werden kann, so dass Mandanten mit ihrem Rechtsanwalt dort vertrauliche Gespräche führen sowie ihre Unterlagen und Mitteilungen vor unbefugtem Zugriff sicher verwahrt wissen können.
Der Gesetzgeber der BRAO hat 2007 das bis dato geltende Verbot der Zweigstellenerrichtung komplett aufgehoben und beschränkt sich seither auf eine Pflicht, neu errichtete Zweigstellen unverzüglich der bzw. den betroffenen Rechtsanwaltskammern mitzuteilen (§ 27 II BRAO). Anschriften von Zweigstellen sind zudem in das Rechtsanwaltsverzeichnis (§ 31 III BRAO) einzutragen. Diese regulatorische Zurückhaltung ging der Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer zu weit, zumal einige Kanzleien sie zum Anlass genommen hatten, zu Werbe- und Akquisitionszwecken reine „Briefkastenzweigniederlassungen“ zu errichten, in denen eine Erreichbarkeit des Anwalts faktisch nur über Handy, Internet und ad hoc angemietete Räume gewährleistet war. Sie reagierte mit einer Neufassung des § 5 BORA: „Der Rechtsanwalt ist verpflichtet, die für seine Berufsausübung erforderlichen sachlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen in Kanzlei und Zweigstelle vorzuhalten.“ Der Rechtsanwalt soll so gezwungen werden, eine eigenständige Infrastruktur zu unterhalten. Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) fand an diesem Aktionismus freilich keinen Gefallen: Mangels Regelungskompetenz der Satzungsversammlung hob das Ministerium die Satzungsnorm auf. Indes, das letzte Kapitel der Geschichte der anwaltlichen Zweigstelle war damit noch nicht geschrieben. Anders als in früheren Fällen, in denen sich die Satzungsversammlung dem Sachverstand des BMJ gebeugt hatte, probte sie den Ungehorsam gegenüber der Exekutive, klagte gegen den Aufhebungsbescheid und bekam jüngst beim Anwaltssenat des BGH (Urt. v. 13. 9. 2010 – AnwZ (P) 1/09, NJW 2010 S. 3787) Recht. Zum 1. 1. 2011 ist damit Schluss mit der vorübergehenden vollständigen Liberalität bzw. zumindest mit der bisherigen Grauzone.
Der BGH argumentiert aus der Richterperspektive: Tragend ist für ihn u. a., dass die notwendige „enge Verbindung“ mit dem Gericht und den Rechtsuchenden nicht allein dadurch hergestellt werden könne, dass an den Rechtsanwalt Zustellungen erfolgen könnten und er überhaupt erreichbar sei. Das lässt sich sicher hören. Ein gewisses Störgefühl bleibt gleichwohl bei der Argumentation zur Satzungskompetenz. Die seit 1994 in Kraft stehende Kompetenznorm des § 59 b II Nr. 1 g) BRAO spricht nur die „Kanzleipflicht“, nicht dagegen die Frage der Zweigstellenerrichtung an. Daher stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber sich nicht anlässlich der Liberalisierung des Zweigstellenrechts bewusst gegen eine Verwässerung der Gesetzesnovelle durch die Satzungsversammlung ausgesprochen hat, indem er die alte, vom Wortlaut restriktiv gefasste Kompetenzvorschrift beibehielt. Diese Argumentation des Bundesjustizministeriums hat jedenfalls eine gewisse Plausibilität für sich, sie hätte daher eine eingehendere Würdigung verdient.
Das BGH-Verständnis vom Begriff „Kanzlei“ als einem die Zweigstelle umfassenden Oberbegriff wirft für die Praxis neue Rechtsfragen auf: Müssen künftig alle Anforderungen an die Kanzlei – insbesondere also das Kanzleischildgebot – auch bei einer Zweigstelle erfüllt sein, wenn nicht die Satzung wie beim Briefbogen (§ 10 BORA) Sonderregelungen enthält? Wie häufig muss der Anwalt oder zumindest ein Mitarbeiter in der Zweigstelle wöchentlich präsent sein? Die Praxis wäre sicherlich dankbar gewesen, wenn sie – entsprechend dem Willen des Gesetzgebers – mit all diesen Unsicherheiten nicht behelligt worden wäre.