Das Amtsgericht Bonn hat mit Beschluss vom 18. 1. 2012 (51 Gs 53/09, DB0466282) einer dritten Partei (Pfleiderer) die Akteneinsicht in Bonusanträge verweigert, welche Kartellteilnehmer beim Bundeskartellamt nach der Bonusregelung zum Erlass oder der Reduzierung von Kartellbußgeldern eingereicht haben. Der Beschluss ist nicht anfechtbar.
Der Beschluss stellt die erste Anwendung der Grundsätze an, die der Europäische Gerichtshof in seinem Pfleiderer-Urteil (Pfleiderer AG v. Bundeskartellamt, Rs. C-360/09 – 14. 6. 2011, DB0423438) auf Vorlage des Amtsgerichts Bonn aufgestellt hat. Nach Ansicht des EuGH ist es Sache der jeweiligen nationalen Gerichte, im Einzelfall und auf Grundlage des nationalen Rechts zu entscheiden, ob einem Dritten Zugang zu Bonusanträgen bei nationalen Behörden zu gewähren ist.
Das Amtsgericht Bonn begründet seine Entscheidung damit, dass Akteneinsicht nach § 406 Abs. 2 Satz 2 StPO versagt werden kann, soweit der Untersuchungszweck – auch in einem anderen Verfahren – gefährdet erscheint. Nach Ansicht des Amtsgerichts Bonn ist der Zweck von Untersuchungen des Bundeskartellamts die Aufdeckung und Verfolgung von Wettbewerbsverstößen. Dieser Zweck erscheint nach Ansicht des Gerichts gefährdet, wenn die Antragstellerin Einsicht in Bonusanträge nehmen könnte. Des Gericht befindet: „Es darf nämlich angenommen werden, dass in diesem Fall ein an einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung Beteiligter sich künftig davon abhalten lässt, von der Bonusregelung Gebrauch zu machen.“ Dass es sich um künftiges Verhalten handelt, ist nach Ansicht des Amtsgerichts Bonn unerheblich, denn die Sachverhaltsaufklärung ist nicht erst beeinträchtigt, wenn bereits ein Verfahren eingeleitet worden ist, „sondern erst recht bereits dann, wenn das Bundeskartellamt noch gar keine Informationen über einen Wettbewerbsverstoß hat und daher noch kein Verfahren eingeleitet hat.“ Darüber hinaus berücksichtigt das Amtsgericht Bonn auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen, die im Rahmen eines Bonusantrags freiwillig Angaben machen und für die die Behörde Vertraulichkeit zugesichert hat.
Der Beschluss ist von enormer praktischer Bedeutung. Unternehmen, welche wegen Verstößen gegen das Kartellrecht Schadensersatz fordern, können sich zwar zum Nachweis des Kartellverstoßes auf eine Entscheidung einer Kartellbehörde stützen, die insoweit für das Gericht bindend ist. Die Kläger müssen aber vor allem hinsichtlich Schadenshöhe und Kausalität substanziiert vortragen und versuchen deshalb, Zugang zu den Akten der Kartellbehörden zu erlangen, in denen sie hilfreiche Informationen vermuten. Die Kartellbehörden stehen einem Akteneinsichtsrecht kritisch gegenüber, da sie fürchten, dass ein solcher Zugang die Effektivität der Kronzeugenregelung mindern und damit die Kartellbekämpfung, welche weitgehend auf der Kronzeugenregelung beruht, erschweren würde. Denn Unternehmen könnten vor einem Kronzeugenantrag zurückschrecken, wenn sie befürchten müssten, dass der Kronzeugenantrag einem zukünftigen Kläger in einem Schadensersatzprozess insbesondere bei der Berechnung der Schadenshöhe helfen könnte.
Das Bundeskartellamt hat dementsprechend den Beschluss des Amtsgerichts Bonn begrüßt. Für Kläger ist der Beschluss dagegen ein Rückschlag. Immerhin hat das Amtsgericht Bonn bejaht, dass grundsätzlich ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht besteht, wenn sie der Prüfung und Vorbereitung etwaiger Schadensersatzklagen dienen soll und die Antragstellerin als Abnehmerin von Produkten im Kartellzeitraum möglicherweise als Verletzte des Kartells anzusehen ist. Darüber hinaus befindet das Amtsgericht Bonn anzudeuten, dass anders zu entscheiden ist, wenn es sich nicht um freiwillige Angaben in Bonusanträgen handelt, sondern um Beweismittel, die ohnehin bereits bei den Kartellmitgliedern vorhanden waren und daher der Gefahr unterliegen, beschlagnahmt zu werden. Dabei ist allerdings der Schutz von Geschäftsgeheimnissen zu wahren. Dies entspricht der Ansicht des Generalanwalts im EuGH-Verfahren, welcher unterschieden hatte zwischen Unterlagen, die zum Zwecke eines Bonusantrags erstellt worden sind und solchen Unterlagen, die unabhängig davon existieren.
Der Beschluss betrifft nur die Rechtslage in Deutschland. Ob Gerichte in anderen EU-Mitgliedstaaten zu demselben Ergebnis kommen, ist noch offen. Derzeit prüfen Gerichte in Großbritannien und Frankreich ähnliche Anträge. Es besteht daher weiterhin die Gefahr, dass divergierende Rechtsprechung zu einer Zersplitterung der Rechtslage innerhalb der Europäischen Union führen könnte. Dementsprechend fordern u. a. das Bundeskartellamt und die Europäische Kommission im Anschluss an das Pfleiderer-Urteil des EuGH eine gesetzliche Klärung der Frage der Zugangsrechte zu Kronzeugenanträgen.