Wer die Kontrolle über eine börsennotierte Aktiengesellschaft erlangt, hat den übrigen Aktionären ein Angebot auf Erwerb ihrer Aktien, ein sog. Pflichtangebot nach § 35 WpÜG zu unterbreiten. Doch was geschieht, wenn der Bieter die Abgabe eines Pflichtangebots pflichtwidrig unterlässt und die BaFin nicht einschreitet, da sie fälschlicherweise davon ausgeht, die Voraussetzungen der Angebotspflicht bzw. der Kontrollerlangung lägen nicht vor? Können die Aktionäre der Zielgesellschaft von der BaFin ein Einschreiten gegen den säumigen Bieter verlangen?
Der Wertpapiererwerbs- und Übernahmesenat des OLG Frankfurt/M. hat diese Frage im Beschluss vom 5. 12. 2011 – WpÜG 1/11, DB 2012 S. 275 (betreffend das Übernahmeangebot der Deutsche Bank an die Aktionäre der Postbank) verneint und entschieden, dass die Aktionäre keinen Anspruch auf ein Tätigwerden der BaFin haben. Damit bestätigt der Senat seine bisherige Rechtsprechung in den Verfahren ProSieben/Sat1 und Wella (DB 2003 S. 1373 – Wella I; DB 2003 S. 1371 – ProSieben I; DB 2003 S. 1782 – Wella II; DB 2003 S. 2537 – ProSieben II), wonach die Vorschriften des WpÜG keinen öffentlich-rechtlichen Drittschutz vermitteln. Nach Ansicht des Senats habe sich daran auch durch das zwischenzeitliche Inkrafttreten der EU-Übernahmerichtlinie und des darauf beruhenden Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetzes nichts geändert.
Mit der Entscheidung des OLG Frankfurt/M. dürfte für die Praxis weitgehend geklärt sein, dass die BaFin Dritten gegenüber nicht zu einem Einschreiten verpflichtet ist. Interessant ist jedoch auch, was der Senat in einem obiter dictum zum zivilrechtlichen Anlegerschutz im WpÜG ausführt: Für den Fall eines behaupteten unterlassenen Pflichtangebots gewähre § 38 WpÜG den Aktionären der Zielgesellschaft einen im Zivilrechtsweg durchsetzbaren Zinsanspruch. Die Qualifikation des § 38 WpÜG als selbstständig durchsetzbarer Zinsanspruch ist umstritten. Der BGH hat die Frage in seiner WMF-Entscheidung (18. 9. 2006 – II ZR 137/05, DB 2006 S. 2452) zwar angesprochen, aber nicht abschließend beantwortet. Auch wenn die Entscheidung des OLG Frankfurt/M. das Wort „selbstständig“ nicht verwendet, müssen säumige Bieter wohl verstärkt damit rechnen, dass Aktionäre das Urteil zu ihren Gunsten interpretieren.
Dass das Urteil auch als Begründung für die Zulassung von über den Zinsschaden hinausgehenden Schadensersatzansprüchen der Aktionäre aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. mit § 35 WpÜG dienen könnte, erscheint dagegen eher fraglich. Das vom OLG Frankfurt/M. zustimmend zitierte LG Köln hat in seinen Urteilen vom 4. 2. 2011 – 82 O 30/09 und vom 29. 7. 2011 – 82 O 28/11 einen zivilrechtlichen Drittschutz verneint. Die Frage ist allerdings umstritten. Nach anderer Ansicht hat § 35 WpÜG Schutzgesetzcharakter mit der Folge eines entsprechenden Schadensersatzanspruchs der Aktionäre (Gesamtdarstellung bei Derst, Ansprüche von Aktionären bei unterlassenem Pflichtangebot, 2010). Die Systematik des WpÜG legt eine solche Auffassung allerdings nicht nahe: § 38 WpÜG begründet nämlich anders als § 35 WpÜG ausdrücklich eine Verpflichtung des Bieters gegenüber den Aktionären. Der Zinszahlungsanspruch knüpft zudem nicht an die Entstehung eines zivilrechtlichen Anspruchs auf Kauf von Aktien durch den Angebotsverpflichteten an, sondern an einen Verstoß gegen die kapitalmarktrechtlichen Vorschriften des § 35 WpÜG (Geibel/Süßmann/Meyer, WpÜG, 2. Aufl. 2008 § 35 Rdn. 59). Beide Vorschriften können mithin unterschiedlich gewertet werden.