Die von Wissenschaft und Praxis seit langem erwartete Aufgabe des Grundsatzes „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ ist im Juli 2010 quasi nach Ansage erfolgt, nachdem sich die Richter des zuständigen 4. Senats des BAG zuvor schon mehrfach kritisch gegenüber der sog. Tarifeinheit geäußert hatten. Obwohl die Entscheidung somit keine Überraschung war, sieht sich die Praxis aktuell nur unzureichend auf die neuen Herausforderungen vorbereitet. Der Grund für die verbreitete Unsicherheit liegt in der Vielfalt der durch Sonderinteressen geprägten Reformvorschläge, ein Konsens ist nicht einmal annäherungsweise erkennbar. Von namhaften Arbeitsrechtlern, wie der Präsidentin des BAG Ingrid Schmidt, wird ebenso wie vom Sachverständigenrat ein aktueller Regelungsbedarf in Zweifel gezogen. Die Bundeskanzlerin hat sich auf dem Arbeitgebertag im November 2010 dagegen nicht nur zur Regelungsnotwendigkeit bekannt, sondern sogar versprochen bis Ende Januar 2011 eine Antwort zu geben. Diese Frist läuft nun ab. Wie wird die Regelung aussehen?
In der Politik besteht anders als in der Fachwelt offenbar ein Konsens über die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung. Herr Steinmeier hat es jüngst aus Sicht der SPD gar als eines der „skandalösen“ Versäumnisse der Regierungskoalition gewürdigt, dass sie die Tarifeinheit im Betrieb nicht wiederhergestellt habe. In der Tat sollte der Gesetzgeber schon aus Gründen der Rechtssicherheit eine Regelung anstreben. Eine Rechtssicherheit schaffende und zugleich die Verhältnismäßigkeit achtende Regelung liegt im Interesse aller Tarif- und Arbeitsvertragsparteien. Zwar bleibt die arbeitskampfrechtliche Teilregelung eines Sonderproblems grundsätzlich unbefriedigend, eine kohärente und mit dem Tarifrecht vernetzte Kodifikation des Arbeitskampfrechts ist seit Jahrzehnten überfällig. Angesichts der Unfähigkeit des Gesetzgebers diese große Aufgabe zu bewältigen, führt aber wohl kein Weg an einem solchen ersten kleinen Schritt vorbei.
Der Gesetzgeber hat sowohl bei der Würdigung des Regelungsbedarfs als auch bei der Ausgestaltung der arbeitskampfrechtlichen Folgen von Tarifpluralitäten einen Entscheidungsspielraum. Angesichts der Erfahrungen mit Streiks im Bereich der Daseinsvorsorge und der im Ausland zu beobachtenden Entwicklungen muss er Störungen des Tarifsystems nicht erst abwarten, sondern kann aktuell präventive Maßnahmen ergreifen. Allerdings sollten sich die Eingriffe in die Betätigungsfreiheit der Gewerkschaften auf das zur Sicherung eines funktionierenden Tarifsystems Erforderliche beschränken. Dieses Postulat wird von zahlreichen der bislang vorgelegten Reformvorschläge zu wenig beachtet. Tarifpluralitäten, die darauf zurückzuführen sind, dass der Arbeitgeber oder sein Verband mit unterschiedlichen Gewerkschaften aufgrund privatautonomer Entscheidungen Tarifverträge geschlossen haben, sind grundsätzlich hinzunehmen. Eine den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz achtende gesetzliche Regelung greift daher nicht schon auf der Ebene des Tarifrechts, sondern erst auf der Ebene des Arbeitskampfrechts.
Bei der gesetzlichen Teilregelung hat sich der Gesetzgeber gegenüber den Organisationsmodellen der Gewerkschaften neutral zu verhalten, d. h. nach dem Berufsverbandsprinzip organisierte Gewerkschaften dürfen gegenüber den auch als „Multiberufsgewerkschaften“ bezeichneten Industrieverbänden weder bevorzugt noch benachteiligt werden. Auch unter Berücksichtigung dieser Organisationsautonomie darf der Gesetzgeber aber sehr wohl den überlegenen Beitrag würdigen, den Industrieverbandsgewerkschaften für ein funktionierendes Tarifsystem leisten.
Den Vorrang vor Eingriffen in das Arbeitskampfrecht verdienen verfassungsrechtlich unproblematische verfahrensrechtliche Regelungen zur Koordinierung der Tarifverhandlungen. Jeder in einem Betrieb vertretenen Gewerkschaft ist zunächst ein Anspruch auf Beteiligung an laufenden Tarifverhandlungen zu gewähren, darüber hinaus muss ihren Mitgliedern ein Recht auf Übernahme des Verhandlungsergebnisses mit der betriebsweit repräsentativen Gewerkschaft eingeräumt werden. Jedem Arbeitskampf hat außerdem ein Schlichtungsverfahren vorauszugehen, in das auch die von den „kleineren“ Gewerkschaften vertretenen Berufsgruppen bzw. Interessen einbezogen werden. Moderate Einschränkungen des Streikrechts der Gewerkschaften sind nur für jene Fälle zu erwägen, in denen es bereits zum Abschluss eines betriebsweiten, mitgliedschaftlich stärker legitimierten Tarifvertrages gekommen ist.