Selten hat ein Urteil zu einem juristischen Meinungsstreit im Wertpapierrecht so unmittelbare praktische Auswirkungen gezeitigt: Ein Beschluss des OLG Frankfurt/M. in einem Beschwerdeverfahren zum neuen Schuldverschreibungsgesetz (SchVG) hat die Sanierungspläne zweier börsennotierter Unternehmen scheitern lassen. Der Oberpfälzer Holzverarbeiter Pfleiderer AG –Beschwerdeführer in dem OLG-Verfahren – und das Bitterfelder Solarunternehmen Q-Cells SE stellten jeweils kurz danach Insolvenzantrag.
Hintergrund ist die durch § 24 SchVG eröffnete Möglichkeit – der sog. „Opt In“ –, nachträglich sog. „Collective Action Clauses“ durch Mehrheitsbeschluss der Anleihegläubiger und mit Zustimmung des Emittenten in Anleihen einzuführen, die schon vor dem Inkrafttreten des SchVG begeben wurden. „Collective Action Clauses“ – in § 5 SchVG geregelt – erlauben die Änderungen der Anleihebedingungen mit Wirkung für alle Anleihegläubiger durch Mehrheitsbeschluss, der regelmäßig mindestens 75% der Stimmen der anwesenden und stimmberechtigten Anleihegläubiger bedarf. Manche neuen Anleihebedingungen sehen sogar Stimmrechtshürden von 85% oder 90% vor.
Auch nach dem alten Schuldverschreibungsgesetz von 1899 war zwar eine Änderung der Anleihebedingungen durch Mehrheitsbeschluss möglich; dies allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen und mit einer auf höchstens drei Jahre beschränkten Wirkung. Hinzu kam, dass das alte Schuldverschreibungsgesetz nur für die von deutschen Emittenten begebenen Anleihen galt. Viele Unternehmen hatten aber ihre Anleihen über ausländische Finanzierungstochtergesellschaften – meist in Luxemburg oder den Niederlanden – begeben; so auch Pfleiderer und Q-Cells. Das alte Schuldverschreibungsgesetz ist daher für sie nicht anwendbar.
In der Literatur zu § 24 SchVG wird mehrheitlich die Auffassung vertreten, dass auch für Anleihen ausländischer Emittenten, die deutschem Recht unterliegen, nachträglich ein „Opt In“ möglich ist (vgl. etwa Baums/Schmidtbleicher, ZIP 2012 S. 204; Keller, BKR 2012 S. 15; Verannemann, SchVG, § 24 Rdn. 6; Plank/Lürken, in: Theiselmann, Praxishandbuch Restrukturierungsrecht, Kap. 5 Rdn. 74). Gestützt wird diese Auffassung u. a. durch die Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 16/12814, S. 14, 16) und die Definition des Begriffs „Schuldverschreibungen“ in § 1 Abs. 1 SchVG.
Im Fall Pfleiderer hatte die niederländische Emittentin im Jahr 2007 eine sog. Hybridanleihe begeben. Die Anleihebedingungen unterlagen dabei deutschem Recht, mit Ausnahme einer einzigen Bestimmung, für welche niederländisches Recht gelten sollte und welche u. a. den Nachrang der Forderung aus der Anleihe in der Insolvenz der Emittentin bestimmte. Die Emittentin lud zu einer Gläubigerversammlung nach dem SchVG ein, in der in einer Gläubigerversammlung über den Opt-In und einen Tausch der Anleihen in ein Erwerbsrecht auf neu auszugebende Aktien der Pfleiderer AG beschlossen werden sollte. Die niederländischem Recht unterliegende Anleihebedingung sollte dabei nicht geändert werden. Der Beschluss wurde mit der nötigen Mehrheit von 75% der anwesenden Stimmen gefasst, aber von einigen überstimmten Anleihegläubigern angefochten. Die Emittentin beantragte daraufhin beim LG Frankfurt/M., im Freigabeverfahren die sofortige Vollziehung des Beschlusses zu erlauben.
Das LG Frankfurt/M. lehnte den Freigabeantrag ab (LG Frankfurt/M., Beschluss vom 27. 10. 2011 – 3-05 O 60/11, ZIP 2011 S. 2306) mit der Begründung, dass das SchVG nur Anwendung finde, wenn sämtliche Anleihebedingungen deutschem Recht unterliegen.
Noch weitergehend entschied dieselbe Kammer des LG Frankfurt/M. im Fall Q-Cells, dass das SchVG schon dann keine Anwendung finde, wenn der Emittent im Ausland ansässig sei (LG Frankfurt/M., Beschluss vom 23. 1. 2012 – 3-05 O 142/11, ZIP 2012 S. 474).
Auf die von der Emittentin erhobene sofortige Beschwerde entschied nun das OLG Frankfurt/M. im Fall Pfleiderer (OLG Frankfurt/M., Beschluss vom 27. 3. 2012 – 5 AktG 3/11, DB0470248) über die Ausgangsentscheidung des LG hinaus, dass ein Opt-In nach § 24 SchVG nicht für solche Schuldverschreibungen möglich ist, für die nicht bereits nach dem alten Schuldverschreibungsrecht eine Änderung der Anleihebedingungen durch Mehrheitsbeschluss möglich war – im Umkehrschluss also nur für die Alt-Anleihen deutscher Emittenten. Das OLG begründet dies damit, dass der Begriff „Schuldverschreibung“ in § 24 Abs. 2 SchVG nicht wie in § 1 Abs. 1 SchVG definiert, sondern wie im alten Schuldverschreibungsrecht definiert gemeint sein soll. Dazu zieht das OLG die Gesetzesgenese, das Rückwirkungverbot sowie ein systematisches Argument heran, nämlich dass auch bei nach dem 5. 8. 2009 begebenen Schuldverschreibungen eine Änderung durch Mehrheitsbeschluss nur möglich ist, wenn dies schon bei Ausgabe der Schuldverschreibungen in den Anleihebedingungen bestimmt ist. Sämtlichen Argumenten ist entgegenzutreten. Insbesondere die Ausführungen in der Gesetzesbegründung zu dem in der Empfehlung der G10 ausgesprochenen Bedürfnis nach einer Einführung von Collective Action Clauses in Anleihebedingungen von deutschem Recht unterliegenden Anleihen ausländischer Emittenten (insbesondere Staatsanleihen) belegen den gesetzgeberischen Willen, Anleihen ausländischer Emittenten nachträglich mit Collective Action Clauses ausstatten zu können. Die Notwendigkeit der Zustimmung einer 75%-Mehrheit schützt hier ausreichend vor aussichtlosen Sanierungsversuchen.
Auch das Rückwirkungsverbot ist nicht betroffen, da nicht nachträglich eine Rechtsposition verschlechtert wird. Im Gegenteil, die Forderung aus der Anleihe ist im Zeitpunkt der Beschlussfassung regelmäßig wirtschaftlich bereits im Wert beeinträchtigt; die Änderung der Anleihebedingungen erfolgt ja nur zur Abwendung eines noch größeren Schadens, nämlich regelmäßig der Insolvenz. Wenn das OLG bemängelt, dass das SchVG kein Verfahren vorsehe, in welchem der Wert der Anleihe überprüft werde, so übersieht es, dass im Rahmen der Mehrheitsbeschlussfassung eine solche Überprüfung inzident stattfindet – sei es, dass man diese allein aus dem Mehrheitsprinzip rechtfertigt (Simon, CFL 2010 S. 159), oder dass man ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal einfügt, wonach der Mehrheitsbeschluss im Interesse aller Gläubiger liegen muss (Vogel, ZBB 2010 S. 211; Horn, ZHR 173 [2009] S. 12). Folgte man der Argumentation mit dem Rückwirkungsverbot, müsste dies außerdem auch für die vor 2009 begebenen Anleihen inländischer Emittenten gelten – womit aber § 24 Abs. 2 SchVG jeglicher Anwendungsbereich entzogen wäre.
Da diese Entscheidungsgründe auch im Fall Q-Cells einschlägig waren, gab die Gesellschaft auch dort ihren Plan zu einem Umtausch ihrer Anleiheverbindlichkeiten in Aktien (Debt-Equity-Swap) über das SchVG auf und meldete mangels Verfügbarkeit eines alternativen Sanierungsprozesses Insolvenz an.
Da nach § 19 Abs. 3 Satz 2 Hs. 1 SchVG das LG Frankfurt/M. und damit in der Beschwerdeinstanz das OLG Frankfurt/M. für Anfechtungsklagen gegen die Gläubigerversammlungsbeschlüsse ausländischer Emittenten zuständig ist, muss sich die Praxis bis zu einer Gesetzesänderung auf diese Rechtsprechung einrichten. Es ist bedauerlich, dass ein deutsches Gericht hier nicht zum ersten Mal der Tauglichkeit des deutschen Rechts als Sanierungsinstrument einen schweren Dämpfer verpasst.
Nebenbei hat das OLG Frankfurt/M. außerdem die in deutschen Unternehmensanleihen häufig zu findende Emittentenersetzungsklausel gekippt. Nach deren regelmäßiger Ausprägung kann unter bestimmten Voraussetzungen die Emittentin der Anleihe durch eine andere juristische Person als Schuldnerin ersetzt werden, sofern dies nicht zu steuerlichen Nachteilen für die Gläubiger führt und die Konzernmutter für die Schulden (weiter) mithaftet. Das OLG Frankfurt/M. nimmt – ohne weitere Auseinandersetzung mit dem juristischen Schrifttum hierzu – an, dass diese Klausel gegen wesentliche Grundgedanken des Gesetzes verstoße und daher nach § 307 BGB als Allgemeine Geschäftsbedingung unwirksam sei.
Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber bald den Anwendungsbereich des § 24 SchVG klarstellt. Anlass bietet der kürzlich vorgestellte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesschuldenwesengesetzes (BT-Drucks. 17/9049), in dessen Art. 2 ohnehin eine Änderung zu § 20 SchVG (ausschließliche Zuständigkeit des OLG für Freigabeverfahren) vorgesehen ist. Nach einem Pressebericht soll eine Erweiterung des Gesetzesentwurfs als Reaktion auf die Entscheidung des OLG Frankfurt/M. bereits in Vorbereitung sein.