Der Erste Senat des BVerfG hat mit Urteil vom 11. 7. 2012 zwei Verfassungsbeschwerden (1 BvR 3142/07 sowie 1 BvR 1569/08, DB 2012 S. 1618) zurückgewiesen, die die Folgen des Widerrufs der Börsenzulassung von Aktien zum Handel im sog. regulierten Markt auf Antrag der Gesellschaft betreffen (freiwilliges Down- bzw. Delisting).
In der ersten Verfassungsbeschwerde hatte das BVerfG über den Fall eines Rückzugs vom regulierten Markt (Downgrading) zu entscheiden. Geklagt hatte eine Minderheitsaktionärin, deren Antrag auf Festsetzung einer angemessenen Barabfindung im Spruchverfahren nach einem Downgrading von den Fachgerichten für unzulässig gehalten wurde. Diese argumentierten, dass die Aktien nach dem Rückzug vom regulierten Markt noch im „m:access“ der Börse München, d. h. in einem standardisierten Segment des qualifizierten Freiverkehrs gehandelt wurden und daher die Verkehrsfähigkeit der Aktien nicht beeinträchtigt und eine Anwendung der „Macrotron“-Rechtsprechung des BGH (BGH-Urteil vom 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153 S. 47 = DB 2003 S. 544) nicht geboten sei.
In der zweiten Verfassungsbeschwerde hatte das BVerfG über den Fall eines vollständigen Rückzugs von der Börse (Delisting) zu entscheiden. Mit dem von einer Aktiengesellschaft beantragten Widerruf der Börsenzulassung unterbreitete die Beschwerdeführerin als deren Hauptaktionärin den übrigen Aktionären ein freiwilliges Angebot zum Kauf ihrer Aktien. Einige Aktionäre verlangten in einem Spruchverfahren eine höhere Abfindung. Die Fachgerichte erklärten das Spruchverfahren im Hinblick auf die „Macrotron“-Entscheidung für zulässig. Dagegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde der Hauptaktionärin, die behauptete, in verfassungswidriger Weise einem gesetzlich gar nicht vorgesehenen Spruchverfahren ausgesetzt zu werden.
Das BVerfG hat beide Verfassungsbeschwerden als unbegründet zurückgewiesen. Zunächst hat das BVerfG festgestellt, dass der Widerruf der Börsenzulassung für den regulierten Markt den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts (Art. 14 GG) des Aktionärs nicht berühre. Die mitgliedschaftliche Stellung des Aktionärs werde nicht geschwächt. Der Handel im regulierten Markt führe möglicherweise zu einer gesteigerten Verkehrsfähigkeit der Aktien, dies sei aber nicht Bestandteil des verfassungsrechtlich geschützten Anteilseigentums. Die Anwendung zahlreicher Sondervorschriften für börsennotierte Aktiengesellschaften bzw. börsenrechtlicher Standards qualifiziere die Börsenzulassung nicht als Eigentumsbestanteil. Ein „Downgrading“ der Aktie in den börsenregulierten qualifizierten Freiverkehr ohne ein im Spruchverfahren überprüfbares Pflichtangebot der Gesellschaft oder ihres Hauptaktionärs sei daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Auch die zweite Verfassungsbeschwerde hielt das BVerfG für unbegründet: Die Fachgerichte hätten für den Fall des Delistings verfassungsrechtlich zulässig ein Pflichtangebot aus einer Gesamtanalogie zu den gesetzlichen Regelungen anderer Strukturmaßnahmen hergeleitet. Gegen die Annahme einer Überschreitung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung spreche insbesondere, dass der Gesetzgeber trotz verschiedener Aktivitäten im Umwandlungs- und Gesellschaftsrecht keinen Anlass gesehen habe, der mit der „Macrotron“-Entscheidung des BGH eingeleiteten Rechtsentwicklung entgegenzutreten. Auch die entsprechende Anwendung der Vorschriften des Spruchverfahrensgesetzes, um die Angemessenheit des Pflichtangebots überprüfen zu können, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Das BVerfG setzt mit seinem Urteil den Rahmen für die weitere Rechtsentwicklung, die keineswegs abgeschlossen ist. Insbesondere hat das BVerfG festgestellt, dass die „Macrotron“-Rechtsprechung, bei einem freiwilligen Delisting ein gerichtlich überprüfbares Pflichtangebot zu verlangen, von Verfassungs wegen zulässig, aber nicht geboten ist. Fachrechtlich ließe sich die Situation durchaus abweichend beurteilen. Damit hat das BVerfG es der weiteren Rechtsprechung der Fachgerichte überlassen, auf der Grundlage der mittlerweile gegebenen Verhältnisse im Aktienhandel zu prüfen, ob die bisherige Spruchpraxis Bestand hat, und zu beurteilen, wie der Wechsel vom regulierten Markt in den qualifizierten Freiverkehr in diesem Zusammenhang zu bewerten ist.