Die immer höheren Bußgelder, welche die Europäische Kommission für Verstöße gegen das Kartellrecht verhängt, sind von vielen Stimmen und mit gewichtigen Argumenten beklagt worden (siehe u. a. Feld/Möschel/Wieland/Wigger [„Kronberger Kreis“], Reform der Geldbußen im Kartellrecht überfällig, 2012). Zwar hat die Europäische Kommission nie eingeräumt, dass die Bußgelder überhöht seien, hat aber gleichzeitig Instrumente entwickelt um zu verhindern, dass Bußgelder eine volkswirtschaftlich unerwünscht hohe Zahl von Insolvenzen auslösen. Hierzu gehören (a) die Zahlungsunfähigkeit des betroffenen Unternehmens, (b) „besondere Umstände des Einzelfalls“ und (c) nun auch Modifikationen der Bußgeldberechnung für „Einproduktunternehmen“.
Grundsätzlich berechnet die Kommission Bußgelder, z. B. für Preisabsprachen, als Prozentsatz vom jährlichen Umsatz des Unternehmens mit den kartellierten Produkten. Dieser Prozentsatz kann bis zu 30% betragen und liegt in der Praxis regelmäßig zwischen 15 und 25%. Multipliziert wird dieser Betrag mit der Zahl der Jahre, während derer das Kartell bestand; Zu- und Abschläge werden für erschwerende und mildernde Umstände gemacht (Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, ABlEU 2006 C 210/2).
(a) Chronologisch betrachtet hatte die Kommission zunächst versucht, dem Problem der Insolvenz grundsätzlich überlebensfähiger Unternehmen beizukommen, indem sie bei der Verhängung von Bußgeldern die mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, das Bußgeld aufzubringen (engl. „inability to pay“ – ITP), berücksichtigte (s. Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, Rdn. 35). Nach verschiedenen Einzelfallentscheidungen, die z. T. auf strukturelle Krisen des betroffenen Wirtschaftszweiges (so im Fall Nahtlose Stahlrohre, 1999) oder die mehrfache Bebußung desselben Unternehmens abstellten (so im Fall Elektrotechnische und mechanische Kohlenstoff- und Graphitprodukte, 2003) häuften sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise nach 2008 die Fälle. Daher hat die Kommission ihre Grundsätze für die Herabsetzung eines Bußgelds im Falle mangelnder Leistungsfähigkeit in einer Mitteilung noch einmal festgehalten (s. Information Note: Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines, SEC [2010] 737/2): Die Kommission verlangt erstens den Nachweis, dass die Geldbuße „die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des Unternehmens unwiderruflich gefährden“ würde. Ausgehend von anerkannten Modellen zur Vorhersage der Insolvenzwahrscheinlichkeit betrachtet die Kommission die Auswirkung der Geldbuße auf verschiedene betriebswirtschaftliche Unternehmenskennzahlen und untersucht die Wahrscheinlichkeit, mit der die Geldbuße die Insolvenz des betroffenen Unternehmens verursachen könnte. Zweitens wird das wirtschaftliche und soziale Umfeld des Unternehmens betrachtet (Rezession, Kreditklemme, strukturelle Probleme wie regional hohe Arbeitslosigkeit). Drittens schließlich müssen die Unternehmensaktiva durch die Geldbuße wahrscheinlich einen signifikanten Wertverlust erleiden. Das ist nicht der Fall, wenn nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Fortführung des Unternehmens durch Dritte zu erwarten ist.
(b) Zunehmend unternehmensfreundlicher wurden in den letzten Jahren auch die Zahlungsmodalitäten für Geldbußen – auch wenn das überwiegend mit Hilfe der Gerichte erstritten werden musste. Ausgangspunkt für die Kommission ist stets, dass ein Bußgeld binnen drei Monaten nach Erlass der Entscheidung gezahlt werden muss. Das gilt selbst dann, wenn die Entscheidung vor Gericht angefochten wird; das Rechtsmittel hat also keine aufschiebende Wirkung. Regelmäßig erlaubt die Kommission den Unternehmen aber nun, die Zahlung des Bußgelds vor Rechtskraft der Entscheidung auszusetzen, wenn eine Bankbürgschaft für das Bußgeld und die während des gerichtlichen Verfahrens auflaufenden Zinsen bei der Kommission hinterlegt wird. Das war nicht immer so, und zweitweise bestand die Kommission auch bei angefochtenen Entscheidungen auf vorläufiger Zahlung (s. Information Note: Inability to pay, Rdn. 14 ff.). Allerdings hatte die Kommission immer schon die Möglichkeit, Zahlungen zu stunden oder Ratenzahlungen zu vereinbaren – allerdings nur, wenn auch hier der noch ausstehende Betrag zzgl. Zinsen durch Bankbürgschaft abgesichert war. Diese Bankbürgschaft aufzubringen stellte diverse Unternehmen in wirtschaftlich angespannten Verhältnissen jedoch vor unüberwindbare Probleme. In Einzelfällen wurden daher Ratenzahlungen ohne Besicherung zugelassen (siehe z. B. EuGH-Beschluss vom 13. 4. 2011 – Rs. T-393/10 R, Westfälische Drahtindustrie).
(c) Die Kommission hatte seit jeher die Möglichkeit, die „besonderen Umstände“ eines Falles bei der Bußgeldbemessung zu berücksichtigen (Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, Rdn. 37), davon aber nur sporadisch Gebrauch gemacht (so in den Fällen Kalziumkarbid und Internationale Umzugsdienste). Im Anschluss an die Erwähnung in der Mitteilung von 2010 scheint sich aber nun eine Fallgruppe der besonderen Umstände zu verfestigen, nämlich die “Einproduktunternehmen“ („Conversely, the Commission should avoid imposing fines that would drive competitive companies and productive assets out of the market, especially of SMEs and/or mono-product companies.”).
Während bei diversifizierten Unternehmen regelmäßig nur eines von vielen Produkten vom Kartell betroffen ist und die anderen Unternehmensbereiche helfen können, die Geldbuße zu „erwirtschaften“, stellt diese Art der Bußgeldberechnung Einproduktunternehmen vor besondere Herausforderungen. Rechnerisch kann bei diesen Unternehmen schon ein Kartell, das vier bis sieben Jahre bestand, eine Geldbuße nahezu in Höhe eines Jahresumsatzes auslösen. Darüber hinaus ist bei Einproduktunternehmen die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass bei strikter Befolgung der Bußgeldleitlinien die Bußgeldobergrenze von 10% des weltweiten konzernweiten Umsatzes regelmäßig erreicht wird. Dies hält auch der EuGH für bedenklich (Urteil vom 16. 6. 2011 – Rs. T-211/08, Putters International, Rdn. 67 ff.). Denn die an sich erforderliche Differenzierung nach Dauer und Schwere der Tat sowie unternehmensindividuellen mildernden oder erschwerenden Umständen wird bei Beteiligung an einem Kartell für mehr als ein Jahr regelmäßig eingeebnet. Das Gericht hält das „mit Blick auf den Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen und Sanktionen“ für problematisch, was zur Folge haben könne, „dass das Gericht seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung in den konkreten Fällen ausschöpft, in denen die alleinige Anwendung der Leitlinien von 2006 keine angemessene Differenzierung zulässt“. Ersichtlich hat die Kommission daran kein Interesse, erfreut sie sich doch derzeit eines gerichtlich kaum überprüften Spielraums.
Mit der Entscheidung „Fensterbeschläge“ von März 2012 hat die Kommission – wie von Kommission Almunia bereits im Juli 2011 angekündigt (s. SPEECH/11/515 vom 12. 7. 2011) – auf diese Entwicklungen reagiert (Pressemitteilung IP/12/313 vom 28. 3. 2012) und die Bußgelder für diverse betroffene Unternehmen reduziert. Die Kommission stützt sich in ihrer Entscheidung allerdings nicht auf die mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (Bußgeld-Leitlinien, Rdn. 35), sondern auf die „besonderen Umstände“ (Rdn. 37). Unter Rdn. 35 müsste die Kommission jede Geldbuße auf die maximale Tragfähigkeit des betroffenen Unternehmens festsetzen (was für ein betroffenes Unternehmen auch geschah). Aber dieses Rechtsinstitut würde der Kommission das ausreichende Eingehen auf den Einzelfall nur dann ermöglichen, wenn die strikten Voraussetzungen des ITP-Tests erfüllt wären (s. o. (a)). Sind zudem viele oder alle Kartellmitglieder Einproduktunternehmen, so würde ein finanzielles Kriterium („10% vom Konzernumsatz“) durch ein anderes ersetzt („maximale Leistungsfähigkeit“), das ebenso wenig tatangemessen wäre wie das erste. Die Praxis der nächsten Jahre muss nun noch zeigen, ob die Kommission bei Einproduktunternehmen generell die Bußgelder reduziert. Sicher ist, dass sich im Anschluss an die Entscheidung die betroffenen Unternehmen vermehrt darauf berufen werden.