Der BGH hat mit seiner Entscheidung vom 20. 9. 2010 (II ZR 78/09, DB 2010 S. 2270) ein Grundsatzurteil zur Haftung des Aufsichtsrats bei Insolvenzreife gefällt. Das Urteil betrifft die insolvente Stadtwerke Doberlug-Kirchhain GmbH in Brandenburg. Die Gesellschaft war seit Jahresanfang 2002 insolvenzreif, worüber im Aufsichtsrat seit Frühjahr 2002 beraten wurde.
Dennoch kam es zu Zahlungen durch den Geschäftsführer, bis im Oktober 2002 endlich Insolvenzantrag gestellt wurde. Der Insolvenzverwalter nahm die Mitglieder des fakultativ gebildeten Aufsichtsrats auf Erstattung von ca. 900 000 € in Anspruch, darunter den früheren und den jetzigen Bürgermeister sowie den Stadtverordnetenvorsteher. Für die Honoratioren also eine existenzbedrohende Angelegenheit, zumal sie vom Oberlandesgericht tatsächlich verurteilt wurden. Doch der BGH hob auf.
Ist nach dem Gesellschaftsvertrag der GmbH ein Aufsichtsrat bestellt, so sind vorbehaltlich anderweitiger Regelung etliche Vorschriften des Aktiengesetzes entsprechend anzuwenden (§ 52 Abs. 1 GmbHG). Dazu gehört auch § 116 AktG, der wiederum auf die sinngemäße Anwendung der Vorstandshaftung (§ 93 AktG) verweist. Allerdings nimmt das GmbHG diese Norm nur teilweise in Bezug: „in Verbindung mit § 93 Absatz 1 und 2 Satz 1 und 2“. Damit fehlt ausgerechnet § 93 Abs. 3 AktG, dessen Nr. 6 eine Ersatzpflicht für Zahlungen während der Insolvenzreife anordnet. Ergebnis: keine Haftung des Aufsichtsrats.
Ein möglicher Ansatzpunkt für die Haftung ist allerdings die allgemeine Aufgabe des Aufsichtsrats, Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Wenn der Rat erkennt, dass die Geschäftsführer schadensstiftende Handlungen begehen, hat er einzuschreiten. Allerdings fungieren die Mitglieder des fakultativen Aufsichtsrats wie ein Gremium der Gesellschafter. Niemand würde es einfallen, ein Überwachungsverschulden der Gesellschafter zu konstruieren, weil sie die Geschäftsführer ohne einschlägige Weisungen für den Insolvenzfall gelassen haben. Die Gesellschafter sind nicht Adressaten des § 64 Satz 1 GmbHG. Wenn der fakultative Aufsichtsrat wahrnimmt, was sonst der Gesellschaftergesamtheit obliegt, kann sich daraus kein zusätzliches Haftungsregime ergeben.
Vor allem aber fehlt es an einem Schaden der Gesellschaft, wenn Zahlungen bei Insolvenzreife fließen. Geschädigt werden die Gläubiger. Durch die Zahlung scheidet einer der Gläubiger aus dem Rennen aus, durch dessen Befriedigung vermindert sich die Aktivmasse und damit die Aussichten der Übrigen. Der Senat stellt fest: „Die verbotswidrigen Zahlungen dienen in der Regel der Erfüllung von Verbindlichkeiten der Gesellschaft und führen bei dieser nur zur Verkürzung der Bilanzsumme, nicht aber zu einem Vermögensschaden i.S. der §§ 249 ff. BGB. Verringert wird nur die Insolvenzmasse in dem nachfolgenden Insolvenzverfahren, was zu einem Schaden allein der Insolvenzgläubiger führt.“ Zwar wird in der Literatur versucht, ein anderes („normatives“) Schadensverständnis zu entwickeln, doch für Zahlungen nach Insolvenzreife kommt dann allenfalls die Drittschadensliquidation in Betracht.
Die hauptsächliche Bedeutung der für die amtliche Sammlung bestimmten „Doberlug“-Entscheidung liegt weniger in der Klarstellung, dass der fakultative GmbH-Aufsichtsrat in der Insolvenzsituation nicht für Zahlungen durch die Geschäftsführer haftet. Sie liegt in der sehr deutlich gemachten Auffassung in der weiteren Begründung des Urteils , dass ein obligatorischer Aufsichtsrat bei dieser Sachlage allerdings hafte; dieser sei „im Interesse der Allgemeinheit“ und weil er „öffentliche Belange“ zu wahren habe (?), in die Pflicht genommen.
Diese Aussage wirft wenigstens zwei Probleme auf: (1) Gilt sie vollumfänglich auch für den mitbestimmten – also obligatorischen – GmbH-Aufsichtsrat? Der Ansatz der Mitbestimmung ist doch nicht die Haftungserweiterung zugunsten der Gläubiger. (2) Was ist im Aufsichtsrat zu tun, um der Haftung zu entgehen? Zu letzterem sagt der BGH, der Aufsichtsrat habe darauf „hinzuwirken“, dass der Vorstand verbotswidrige Zahlungen (insbesondere die der Löhne!) unterlasse, letztlich einen unzuverlässig erscheinenden Vorstand abzuberufen. Die Gesellschaft in der Insolvenzkrise ggf. führungslos zu machen ist freilich keine praktikable Alternative. Auch muss man fragen, ob das Beispiel der Lohnzahlung glücklich gewählt ist. Das Urteil wird gerade mit diesen obiter gemachten Bemerkungen für viel Gesprächs- und Beratungsstoff sorgen.