Das Gericht der Europäischen Union („EuG“) hat in einem Urteil vom 19. 11. 2012 (Rs. T-135/09 – Nexans / Kommission) erörtert, in welchem Umfang Unternehmen Durchsuchungen durch die Europäische Kommission gerichtlich überprüfen lassen können. Es hat dabei der Kommission gewisse Grenzen gezogen. Aber weiterhin tragen die Unternehmen das erhebliche Risiko einer (selbst unverschuldeten) falschen Einschätzung der Ermittlungsbefugnisse der Kommission. Der Entscheidung lag eine Durchsuchung („Nachprüfung“) mehrerer Unternehmen wegen Preisabsprachen im Bereich Stromkabel im Jahr 2009 zugrunde. Die Entscheidung, mit welcher die Kommission die Nachprüfung anordnete, nannte als Gegenstand der Untersuchung „elektrische Kabel […], u. a. einschließlich unterseeischer und unterirdischer Hochspannungskabel“. Nexans verlangte vor Gericht die Aufhebung der Nachprüfungsentscheidung, denn der Untersuchungsgegenstand sei zu unbestimmt und zu weit gefasst. Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen das Kartellrecht hätten nur für die ausdrücklichen genannten Kabelarten vorgelegen. Letzteres ergebe sich aus den im Einzelnen durchsuchten Büros und aus einer Pressemitteilung der Kommission.
Das EuG hielt die Nachprüfungsentscheidung für hinreichend bestimmt (Art. 20 Abs. 4 Satz 2 Verordnung 1/2003). Das Unternehmen könne aus der Entscheidung eindeutig entnehmen, worauf sich der Verdacht der Kommission richtete, nämlich auf sämtliche Arten von Stromkabeln. Das Unternehmen hätte den Umfang seiner Duldungs- und Kooperationspflicht aus der Entscheidung erkennen können.
Allerdings folgte das EuG Nexans dahingehend, dass dieser weite Untersuchungsgegenstand nicht von den Verdachtsmomenten gedeckt war, die der Kommission im Zeitpunkt der Entscheidung vorlagen. Anhaltspunkte für einen Verstoß habe es nur in Bezug auf unterseeische und unterirdische Hochspannungskabel gegeben. Nach Art. 20 Abs. 1 Verordnung 1/2003 kann die Kommission zur Erfüllung ihrer Aufgaben „erforderliche“ Nachprüfungen bei Unternehmen vornehmen. Erforderlich ist eine Nachprüfung nur, wenn es Anhaltspunkte für einen konkreten Kartellverstoß gibt. Dadurch sollen berechtigte Nachprüfungen von unzulässigen sog. fishing expeditions abgegrenzt werden. Soweit die Nachprüfungsentscheidung andere als Unterseekabel und unterirdische Kabel betraf, wurde sie daher vom EuG aufgehoben.
Die drastische Folge der Aufhebung der Nachprüfungsentscheidung insgesamt kann die Kommission anscheinend leicht vermeiden. Ein Gattungsbegriff für die betroffenen Produkte genügt. Ansonsten zieht das EuG den Ermittlungsbefugnissen der Kommission gewisse Grenzen. Die Kommission kann nämlich nur in dem Umfang eine Nachprüfung anordnen, wie sie über hinreichende Anhaltspunkte für einen Kartellverstoß verfügt (ähnlich dem „Anfangsverdacht“ im deutschen Strafrecht). Überschreitet eine Nachprüfungsentscheidung diesen Umfang, wird sie auf Klage des betroffenen Unternehmens insoweit aufgehoben. Und im Umfang der (späteren!) Aufhebung muss das Unternehmen weder die Nachprüfung dulden noch mit der Kommission kooperieren; rechtswidrig erlangte Beweismittel dürfen nicht verwertet werden.
Dennoch ist aus Sicht der Unternehmen Vorsicht geboten:
Erstens kann ein Unternehmen kaum wissen, in welchem Umfang die Kommission über Anhaltspunkte für einen Verstoß verfügt – und der Fall Nexans illustriert das: Die Kommission hatte eine Nachprüfungsentscheidung für „[sämtliche] elektrischen Kabel“ erlassen. Nexans hatte vorgetragen, die Kommission hätte lediglich für „Unterseekabel“ hinreichende Anhaltspunkte gehabt (Urteil, Rdn. 60). Das Gericht jedoch ließ sich von der Kommission detailliert erläutern, welche Hinweise bei Erlass der Nachprüfungsentscheidung vorlagen und ließ sich zu diesem Zweck Auszüge aus dem Kronzeugenantrag vorlegen (Urteil, Rdn. 79). Ersichtlich ist das dem betroffenen Unternehmen verwehrt. Tatsächlich stellte das Gericht aber fest, die Kommission hätte hinreichende Anhaltspunkte für einen Verstoß betreffend Unterseekabel und unterirdische Kabel gehabt (Urteil, Rdn. 81-91) und hob die Nachprüfungsentscheidung nur auf, soweit sie über diese beiden Produktgruppen hinausging (Urteil, Rdn. 94). Unverschuldet und nahezu notwendigerweise muss das betroffene Unternehmen das Risiko einer Fehleinschätzung auf sich nehmen. Denn scheitert die spätere Klage gegen die Nachprüfungsentscheidung, weil die Kommission bessere Beweismittel hatte als erwartet, so kann die Kommission die rechtswidrige Verweigerung der Kooperation mit einem Aufschlag auf das Bußgeld oder einem selbstständigen Bußgeld ahnden. Das kann in unglücklichen Fällen ein zweistelliger Millionen-Betrag sein.
Zweitens muss sich die Kommission zwar an den in der Nachprüfungsentscheidung genannten Untersuchungsumfang halten; insbesondere kann sie über diesen hinaus vom betroffenen Unternehmen keine Mitwirkung verlangen. Hält sie sich aber innerhalb der Nachprüfungsentscheidung und stößt dabei zufällig auf Beweismittel für einen außerhalb der Nachprüfungsentscheidung liegenden Verstoß, kann sie diese Beweismittel in einem späteren, separaten Verfahren verwerten.
Drittens, schließlich, hindert nicht einmal die Aufhebung der Nachprüfungsentscheidung die Kommission daran, gegen ein Unternehmen Beweismittel zu verwenden, welche sie, die Kommission, von anderen Unternehmen erhält (dem Kronzeugen) oder sich durch Nachprüfungen bei anderen Unternehmen verschafft (jedenfalls wenn diese nicht auch klagen).
Das Urteil des EuG beschäftigt sich weiterhin mit der gerichtlichen Überprüfung von einzelnen Ermittlungsmaßnahmen, wie dem Kopieren von Festplatten, verweigert aber in der Sache den Rechtsschutz und verweist die Unternehmen stattdessen auf das Rechtsmittel gegen die Endentscheidung der Kommission, mit der ein Bußgeld verhängt wird.
Der Europäische Gerichtshof wird sich diesen Fragen demnächst zuwenden müssen, denn Nexans hat gegen die Entscheidung des EuG Rechtsmittel eingelegt (Rs. C-37/13P – Nexans / Kommission).