Das europäische Kartellrecht ist komplex. Ob eine bestimmte Verhaltensweise zulässig oder unzulässig ist, lässt sich nicht immer leicht abschätzen. Verstößt ein Unternehmen gegen das europäische Kartellverbot, drohen hohe Bußgelder. Ob ein solcher Verstoß vorliegt, müssen die Unternehmen selbst prüfen und beurteilen („Selbsteinschätzung“). Dies ist nicht überraschend, sondern gilt seit jeher bei jeder „normalen“ Rechtsnorm. Im Kartellrecht war es früher aber anders. Denn bis zum 1. 5. 2004 konnten wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen bei der Europäischen Kommission angemeldet werden. Seitdem gilt jedoch das Prinzip des Genehmigungsvorbehalts nicht mehr, sondern das Prinzip der Legalausnahme, also die Selbsteinschätzung.
Bei schwierigen Zweifelsfragen liegt es für Unternehmen deshalb nahe, fachkundigen Rechtsrat einzuholen. Dies führt zu der Frage, ob eine Kartellbehörde ein Bußgeld gegen das Unternehmen verhängen darf, wenn es auf einen Rechtsrat vertraut hat, der sich später als unzutreffend herausgestellt hat. Darum geht es im Vorabentscheidungsersuchen des österreichischen OGH im Fall Schenker, in dem die Generalanwältin Kokott am 28. 2. 2013 – Rs. C-681/11 dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ihre Schlussanträge vorgelegt hat. Abzuwarten bleibt die Entscheidung des EuGH. Das Gericht folgt indessen häufig den Schlussanträgen der Generalanwälte.
In dem zugrundeliegenden Fall ging es um ein Kartell auf dem österreichischen Markt für Speditionsdienstleistungen. Die Kartellanten wähnten sich europarechtlich „auf der sicheren Seite“, da sie den räumlichen Anwendungsbereich ihres Kartells allein auf Österreich beschränkten und beim zuständigen nationalen Kartellgericht im Jahr 1996 die Feststellung erwirkten, dass sie ein sog. Bagatellkartell bildeten, das ohne Genehmigung praktiziert werden kann. Diese Auffassung wurde in verschiedenen Beratungsschreiben von einer Rechtsanwaltssozietät bekräftigt, die von den Speditionsunternehmen beauftragt worden war. Im Jahr 2007 hat die Europäische Kommission jedoch eine sog. Nachprüfung (d.h. Durchsuchung) durchgeführt und die österreichische Wettbewerbsbehörde warf den Speditionsunternehmen vor, im Zeitraum von 1994 bis 2007 gegen europäisches und nationales Kartellrecht verstoßen zu haben. Gegen die von der Behörde beantragten Geldbußen wandten sich die Unternehmen mit dem Hinweis, sie hätten angesichts des externen Rechtsrats jedenfalls nicht schuldhaft gehandelt. Das Oberlandesgericht Wien ist dem in erster Instanz gefolgt. Im Rechtsmittelverfahren hat der österreichische Oberste Gerichtshof dem EuGH einige Fragen dazu vorgelegt, unter welchen Voraussetzungen ein Unternehmen auf anwaltlichen Rat vertrauen darf. Hierzu hat sich jetzt die Generalanwältin Kokott geäußert.
Sie empfiehlt, auch im europäischen Kartellrecht den schuldausschließenden Verbotsirrtum (auch unvermeidbare, entschuldbare oder nicht vorwerfbarer Irrtum genannt) anzuerkennen. Für einen solchen Irrtum sollen aber bestimmte Mindestanforderungen gelten. Zunächst müsse das Unternehmen gutgläubig auf den eingeholten Rechtsrat vertraut haben. Weiterhin müsse der Rechtsanwalt fachkundig sein, was nach Auffassung der Generalanwältin voraussetze, dass er auf das Kartellrecht spezialisiert sei und überdies regelmäßig mit Mandaten aus diesem Rechtsgebiet betraut sei. Zudem sei es erforderlich, dass der anwaltliche Rat auf der Grundlage einer vollständigen und zutreffenden Tatsachenschilderung seitens des Unternehmens erteilt worden ist. Der Rechtsrat müsse sich weiterhin mit der Verwaltungs- und Entscheidungspraxis umfassend auseinandersetzen. Schließlich dürfe der Rechtsrat nicht offenkundig falsch sein, was durch das Unternehmen im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle zu überprüfen sei. So weit, so gut. Die vorstehenden Kriterien leuchten ein, da sie sicherstellen sollen, dass einem Bußgeld ein bloßes Gefälligkeitsgutachten nicht entgegen gehalten werden kann.
Die Generalanwältin hat sich darüber hinaus auch zu der Frage geäußert, von wem ein Rechtsrat einzuholen ist, auf den sich das Unternehmen verlassen darf. Sie meint, der Rechtsrat müsse von einem externen Rechtsanwalt erteilt werden. Demgegenüber könne sich ein Unternehmen durch Einschaltung der eigenen internen Rechtsabteilung nicht selbst einen „Freibrief“ ausstellen. Dieses Kriterium ist weniger einleuchtend. Es gibt keinen Grund, grundsätzlich an der Objektivität von Syndikusanwälten zu zweifeln. Auch unternehmensinterne Juristen besitzen häufig eine besondere Sachkunde. Sie sind auch verpflichtet, die Gesellschaft vor Bußgeldern und Schadensersatzansprüchen zu bewahren. Sie sind im Übrigen denselben Risiken wie externe Rechtsanwälte ausgesetzt, wenn sie bewusst falsche Rechtsauskünfte erteilen.
Das größte Problem kommt aber noch. Denn auch, wenn das Unternehmen die vorgenannten Kriterien einhält, ist das Gutachten für die Zwecke der rechtlichen Absicherung wertlos, wenn die Rechtslage „unklar“ ist, da – so die Generalanwältin Kokott – das betroffene Unternehmen in diesem Fall auf eigene Gefahr handele, weil es einen Verstoß zumindest fahrlässig in Kauf nehme. Dies überzeugt nicht. Im Kartellrecht gibt es viele Zweifelsfragen, zumal es nicht nur um rein rechtliche Aspekte geht, sondern auch um die Bewertung von Tatsachen und um ökonomische Wertungen. Zwar ist es gerechtfertigt, bloßen Gefälligkeitsgutachten einen Riegel vorzuschieben. Dies darf aber nicht dazu führen, dass in schwierigen Fragen Unternehmen überhaupt keine Rechtssicherheit mehr durch Einholung von Rechtsrat erlangen können. Wenn sich Unternehmen nur noch auf Rechtsgutachten stützen dürfen, die eine klare Rechtslage wiedergeben, hilft dies genau in den Fällen, in denen ein Bedürfnis nach Rechtsrat besteht, überhaupt nicht. Denn in den schwierigen Fällen wird ein Rechtsrat, der sich – wie gefordert – umfassend mit der Verwaltungs- und Entscheidungspraxis auseinandersetzt, nur selten zu völlig eindeutigen Ergebnissen gelangen. Gleichwohl muss es aber möglich sein, dass ein Gutachter nach sorgfältiger Prüfung und umfassender Erörterung eine bestimmte Verhaltensweise als kartellrechtlich zulässig einstuft und diese Einschätzung für das Unternehmen auch einen praktischen Wert hat. Andernfalls müssten sich die Unternehmen bis zur höchstrichterlichen Klärung von sämtlichen Zweifelsfragen stets an die aus ihrer Sicht ungünstigste Verhaltensanforderung ausrichten. Dies würde die wettbewerbliche Handlungsfreiheit allzu sehr einschränken. Damit wird der Wert anwaltlicher Rechtsgutachten für die betroffenen Unternehmen – entgegen der „Selbsteinschätzung“ von Generalanwältin Kokott – nicht nur „ein wenig geschmälert“, sondern übermäßig eingeschränkt.
Nach Auffassung von Generalanwältin Kokott hilft den Unternehmen auch die eingangs erwähnte Entscheidung des nationalen Kartellgerichts, in der kein Verstoß gegen österreichisches Kartellrecht festgestellt wurde, nicht. Denn das Kartellgericht habe sich nicht ausdrücklich zur Frage der Vereinbarkeit der Absprache mit dem europäischen Kartellrecht geäußert.
Insgesamt mag die Ablehnung eines schuldausschließenden Verbotsirrtums in dem konkreten Fall gerechtfertigt sein (eine Beurteilung ist mangels genauer Sachverhaltskenntnis schwierig). Die allgemein von der Generalanwältin Kokott aufgestellten Anforderungen an einen Rechtsrat, auf den sich Unternehmen auch praktisch verlassen dürfen, erscheinen aber allzu streng.