Ein Unternehmen kann sich einer Kartellbuße nicht mit dem Verweis entziehen, es sei aufgrund einer fehlerhaften anwaltlichen Beratung irrtümlich von der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens ausgegangen. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) jetzt in der Rs. „Schenker“ klargestellt und damit der Einführung des Schuld ausschließenden „Verbotsirrtums“ in das europäische Kartellrecht eine klare Absage erteilt (Az. C-681/11).
Speditionsunternehmen aus Österreich hatten bei ihrer „Kooperation“ u. a. auf die fehlerhafte anwaltliche Beratung vertraut – die nationale Kartellbehörde sprach dennoch ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen europäisches Kartellrecht aus. Generalanwältin Kokott hatte in ihren Schlussanträgen gefordert, den Verbotsirrtum unter strengen Voraussetzungen auch im europäischen Kartellrecht anzuerkennen (vgl. Mäger, Rechtsboard vom 24. 5. 2013). Im konkreten Fall sah sie diese Voraussetzung jedoch nicht erfüllt.
Der EuGH dagegen sieht keinen Raum für einen Verbotsirrtum. Einen Vertrauensschutz könne nur derjenige geltend machen, dem die zuständige Verwaltung eine präzise Zusicherung gegeben hat; der Rechtsrat eines Anwalts könne dagegen bei einem Unternehmen auf keinen Fall ein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, dass sein Verhalten nicht gegen den einschlägigen Art. 101 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verstößt oder nicht zur Verhängung einer Geldbuße führt.
Kein Vertrauen auf die Berater…
In Deutschland müssen Unternehmen selbständig entscheiden, ob ihr Verhalten gegen Kartellrecht verstößt. Eine behördliche Prüfung der sog. Freistellungsfähigkeit von Wettbewerbsbeschränkungen vom Kartellverbot gibt es hierzulande, wie in der gesamten EU, nicht.
Unternehmen tragen deshalb selbst das Risiko der kartellrechtlichen Beurteilung ihres Handelns. Dies ist vom europäischen und deutschen Gesetzgeber auch so gewollt. Ähnlich wie das Strafrecht kennt das Kartellrecht keine behördliche Vorberatung, ob ein bestimmtes Verhalten sanktioniert wird. Auch im Strafrecht gilt der Satz „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“; der schuldausschließende Verbotsirrtum, also der Irrtum des Täters über die rechtliche Bewertung seines Handelns, ist die absolute Ausnahme.
Grundsätzlich gilt: Das Recht muss man kennen. Dieser Satz gilt für Unternehmen naturgemäß umso mehr – anders als Privatpersonen stehen Unternehmen in der Regel Rechtsabteilungen und hochqualifizierte Rechtsberater zur Seite. Wenn diese Berater irren, bleibt den Unternehmen nur ein Regressanspruch.
…noch auf nationale Kartellbehörden
Der Gerichtshof urteilte zudem, dass nationale Wettbewerbsbehörden niemals ein berechtigtes Vertrauen auf die Vereinbarkeit eines bestimmten Verhaltens mit europäischen Kartellrecht begründen könnten. Sie dürften keine Entscheidungen treffen, mit denen das Fehlen eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird. Insoweit obliege die Auslegung des europäischen Rechts ausschließlich der Europäischen Kommission. Diese Regelung soll sicherstellen, dass das europäische Kartellrecht in allen Mitgliedstaaten in gleicher Weise angewendet wird. Wenn nationale Kartellbehörden ein bestimmtes Verhalten nicht bebußen möchten, so können sie allenfalls im Einzelfall von der Verfolgung eines Verstoßes absehen.
Weiter Unsicherheit bei Reichweite von Kronzeugenprogrammen
Auf die zweite Vorlagefrage des Obersten Gerichtshofs in Wien hat der EuGH klargestellt: nationale Wettbewerbsbehörden und Gerichte sind grundsätzlich dazu legitimiert, einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV festzustellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen, wenn sie dabei ein nationales Kronzeugenprogramm anwenden. Das Urteil bestätigt die geübte Praxis; in der Mehrzahl der Kartellverfahren, die von nationalen Kartellbehörden geführt werden, kommt gleichzeitig nationales und europäisches Kartellrecht zur Anwendung.
Allerdings beseitigt das Urteil leider nicht die Unsicherheit in Bezug auf die Reichweite der Kronzeugenprogramme – sie wirken nach wie vor immer nur im Rahmen der Zuständigkeit der sie jeweils anwendenden Behörde. Wenn zu einem späteren Zeitpunkt eine andere Kartellbehörde – die Europäische Kommission oder eine andere nationale Kartellbehörde – das Verfahren übernimmt oder ein anderes Kartellverfahren einleitet, entfällt der Kronzeugenbonus aus dem Ursprungsverfahren.
Kronzeugenantragsteller sollten daher gründlich überlegen, bei welchen Behörden sie Kronzeugenanträge stellen, unter Umständen auch parallel. Und die Behörden werden die damit verbundene „Doppelarbeit“ weiter in Kauf nehmen müssen, solange die Kronzeugenantrags-Regelungen in der EU nicht harmonisiert sind – auch wenn eine solche Vereinheitlichung längst überfällig ist.