Der zuständige Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) hat sich am 20. November 2014 im Rahmen eines finnischen Vorlageverfahrens zu grundlegenden Fragen der Auslegung der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG geäußert, die für das deutsche Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) von großer Bedeutung sind (Rs. C-533/13).
Vorlage des finnischen Arbeitsgerichts
Die Gewerkschaft der Transportarbeiter klagt gegen ein Transportunternehmen und einen Arbeitgeberverband wegen Verletzung von Tarifverträgen. Es geht um Regelungen über den Einsatz von Leiharbeitnehmern:
Nach den Tarifverträgen haben Unternehmen den Einsatz von Leiharbeitnehmern auf den Ausgleich von Arbeitsspitzen oder sonst – zeitlich oder ihrer Art nach – begrenzte Aufgaben zu beschränken, die wegen der Dringlichkeit, der begrenzten Dauer der Arbeit, erforderlicher beruflicher Kenntnisse und Spezialgeräte oder aus vergleichbaren Gründen eigenen Arbeitnehmern nicht übertragen werden können. „Unlauter“ ist nach den Tarifverträgen der Einsatz von Leiharbeit, wenn die Leiharbeitnehmer während eines längeren Zeitraums normale Arbeiten des Unternehmens neben den Stammarbeitnehmern und unter derselben Leitung ausführen.
Die Gewerkschaft macht geltend, das Transportunternehmen setze in erheblichem Umfang Leiharbeitnehmer zur Erledigung von Aufgaben ein, die mit denen der eigenen Arbeitnehmer des Unternehmens identisch seien. Dieser Einsatz sei „unlauter“ im Sinne der Tarifverträge.
Die Beklagten wenden ein, der Einsatz der Leiharbeitnehmer sei aus berechtigten Gründen gerechtfertigt. Es sollten hauptsächlich Urlaubs- und Krankheitsvertretungen von Stammarbeitnehmern abgedeckt werden. Darüber hinaus, so die Beklagten, enthalten die tarifvertraglichen Regelungen eine der Leiharbeitsrichtlinie widersprechende, ungerechtfertigte Einschränkung des Einsatzes von Leiharbeit. Das nationale Gericht dürfe sie daher nicht anwenden.
Das finnische Arbeitsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und beim EuGH im Vorlageverfahren angefragt, ob die tarifvertraglichen Regelungen eine ungerechtfertigte Einschränkung des Einsatzes von Leiharbeitnehmern darstellen, die mit Art. 4 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie unvereinbar ist.
Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie sind Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit nur aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt. Aufgezählt werden hier der Schutz der Leiharbeitnehmer, die Erfordernisse von Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie die Notwendigkeit, das reibungslose Funktionieren des Arbeitsmarktes zu gewährleisten und eventuellen Missbrauch zu verhüten.
Pflicht der Mitgliedstaaten: Einschränkungen beim Einsatz von Leiharbeit aufheben
Der Generalanwalt betont zunächst die Pflicht der Mitgliedstaaten, Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit aufzuheben, soweit sie nicht durch Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt sind. Damit folgt der Generalanwalt der Auffassung der Beklagten und des vorlegenden Gerichts – und widerspricht insbesondere der Auffassung der Klägerin, der Kommission und der deutschen Regierung.
Aber: Keine Substitution der Stammbelegschaft
Zugleich unterstreicht er aber, dass Leiharbeitsverhältnisse „vorübergehender Art“ sind und sich nicht zum Nachteil von Stammarbeitnehmern auswirken dürfen. Er leitet aus der Richtlinie das Regelungsziel ab, die Verdrängung von eigenen, auf Dauerarbeitsplätzen eingesetzten Arbeitnehmern durch eine missbräuchliche Nutzung der Leiharbeit zu unterbinden. Aus den Erwägungen, Begriffsbestimmungen und Regelungszielen der Richtlinie schließt der Generalanwalt, dass Leiharbeit eine Arbeitsform vorübergehender Art ist, eine atypische Arbeitsform, die den Regelfall der direkten Anstellung nicht verdrängen dürfe. Bei der Erreichung dieses Ziels bestätigt er aber den großen Regelungsspielraum der Mitgliedstaaten. Missbrauch von Leiharbeit sei indiziert und könne ohne Verstoß gegen die Richtlinie von Mitgliedstaaten verboten werden, wenn Leiharbeitnehmer neben Stammarbeitnehmern bei dauerhaftem Bedarf für längere Zeit eingesetzt werden. Leider wird das zeitliche Element in den Schlussanträgen nicht näher konkretisiert, worauf viele gehofft hatten.
Auch wenn der EuGH nicht an den Vorschlag des Generalanwalts gebunden ist, folgt er ihm in der Mehrzahl der Fälle. Mit der Entscheidung ist Anfang 2015 zu rechnen.
Folgen aus nationaler Sicht
Nach den klaren Worten des Generalanwalts dürfte das Verbot der Leiharbeit im Baugewerbe (§ 1b AÜG) europarechtswidrig sein. Dieses Verbot rechtfertigende Gründe des Allgemeinwohls gibt es nicht.
Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten ist nach den Schlussanträgen des Generalanwalts hingegen mit Unionsrecht vereinbar, weil die Richtlinie keine genauen Vorgaben macht und den Mitgliedstaaten ein großer Wertungsspielraum zusteht. Um eine Substitution der Stammbelegschaft durch Leiharbeitnehmer zu verhindern, die der Generalanwalt als Missbrauch wertet, dürfte die Höchstüberlassungsdauer aber nicht rein arbeitnehmerbezogen ausgestaltet werden.
Zweifelhaft ist hingegen, ob die im Koalitionsvertrag vorgesehene Kombination aus Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten und Equal Pay nach neun Monaten nicht zum Nachteil der Unternehmen den Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten überschreitet. Der Generalanwalt betont den „Flexicurity“-Gedanken, also den von der Leiharbeitsrichtlinie angestrebten Ausgleich zwischen dem Flexibilisierungsinteresse der Unternehmen (Flexibility) einerseits und dem Arbeitnehmerschutz (Security) andererseits. Die von der Großen Koalition beabsichtigte Regelung vernachlässigt hingegen das Flexibilisierungsinteresse der Unternehmen.