Arbeitgeber sind im Rahmen von Entlassungen von Arbeitnehmern ab Erreichen bestimmter Schwellenwerte, die sich nach der Anzahl der Arbeitnehmer im Betrieb richten, verpflichtet, eine Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit anzuzeigen (§ 17 Abs. 1 KSchG, sog. Massenentlassungsanzeige). Bei der Berechnung der Schwellenwert gelten dabei nach dem Gesetzeswortlaut Organmitglieder grundsätzlich nicht als Arbeitnehmer (§ 17 Abs. 5 Nr. 1 KSchG). Der EuGH hat nunmehr jedoch mit Urteil vom 9. Juli 2015 (C-229/14) klargestellt, dass bei der Berechnung der Schwellenwerte im Hinblick auf die Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG) zwingend der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff zu berücksichtigen ist. Demnach sind grundsätzlich auch Fremdgeschäftsführer und Praktikanten als „Arbeitnehmer“ zu qualifizieren und bei der Berechnung der Schwellenwerte zu berücksichtigen. Zwar war die Entscheidung zu erwarten gewesen, dennoch wurden diese Personenkreise bislang selten bei der Berechnung der Schwellenwerte berücksichtigt. Dies kann im Einzelfall – genau wie in dem zu entscheidenden Ausgangsfall – zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen führen. Arbeitgeber und Personaler müssen diese personelle Erweiterung bei der Massenentlassung zukünftig kennen und entsprechend berücksichtigen.
Der Sachverhalt: Fremdgeschäftsführer und Praktikantin zählen mit?
Im Ausgangsfall hatte die beklagte GmbH sämtliche Arbeitsverhältnisse zum 15. Februar 2013 aus dringenden betrieblichen Gründen gekündigt und den Geschäftsbetrieb eingestellt. Zusammen mit dem späteren Kläger beschäftigte sie unstreitig mindestens 19 Arbeitnehmer. Daneben beschäftigte die Beklagte einen Fremdgeschäftsführer und eine Praktikantin, die eine von der Agentur für Arbeit geförderte Umschulungsmaßnahme absolvierte und deren Vergütung vollständig durch die Agentur für Arbeit geleistet wurde.
Auf eine Massenentlassungsanzeige verzichtete sie, da sie den Schwellenwert im Sinne von § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG (20 Arbeitnehmer) nicht als erreicht ansah. Der Kläger machte im Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht Verden geltend, dass die Kündigung wegen der unterbliebenen Massenentlassungsanzeige unwirksam sei. Die Beklagte habe verkannt, dass auch der Fremdgeschäftsführer, der zur Vertretung der GmbH nur gemeinschaftlich befugt war, sowie die Praktikantin bei der Berechnung des Schwellenwertes nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG zu berücksichtigen gewesen wären.
Das Arbeitsgericht Verden setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH zur Vorabentscheidung sinngemäß die Frage vor, ob auch der Fremdgeschäftsführer und die Praktikantin bei der Berechnung der Schwellenwerte zu berücksichtigen seien. Der EuGH bejahte dies.
EuGH: Fremdgeschäftsführer sind unionsrechtlich „Arbeitnehmer“
Der EuGH hat in den Entscheidungsgründen zunächst festgestellt, dass die jeweilige nationale Einordnung des Anstellungsverhältnisses als Arbeits- oder Dienstverhältnis unerheblich ist. Maßgeblich sei vielmehr der anhand von „objektiven Kriterien“ festzustellende Grad an Weisungsabhängigkeit bei der Erbringung der jeweiligen Dienste. Es gelte daher gerade auch bei Geschäftsführern, trotz deren Organstellung, stets die Bedingungen zu prüfen, „unter denen das Mitglied des Leitungsorgans bestellt wurde, die Art der ihm übertragenen Aufgaben, der Rahmen, in dem diese Aufgaben ausgeführt werden, der Umfang der Befugnisse des Mitglieds und die Kontrolle, der es innerhalb der Gesellschaft unterliegt, sowie die Umstände, unter denen es abberufen werden kann.“ (Rd. 38 der Entscheidungsgründe).
Für Fremdgeschäftsführer sowie Minderheitsbeteiligte Geschäftsführer ohne Sperrminorität ergebe sich dabei grundsätzlich eine Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs. Denn sie unterliegen den Weisungen und der Aufsicht der Gesellschafter, können jederzeit von ihrer Position abberufen werden und befinden sich damit gegenüber der Gesellschaft in einer Abhängigkeit.
Die gleichen Bewertungsmaßstäbe führten bei der Praktikantin dazu, dass der EuGH auch diese aufgrund der weisungsabhängigen Beschäftigung als Arbeitnehmer einstufte.
Der EuGH sieht seine rechtlichen Erwägungen in Einklang mit dem Sinn und Zweck der Massenentlassungsrichtlinie. Es sei nicht erkennbar, dass Organmitglieder kategorisch bei der Berechnung der Schwellenwerte ausgeschlossen sein sollten.
Konsequenzen der Entscheidung
Die Entscheidung des EuGH war wenig überraschend und führt die bisherige Rechtsprechung fort (vgl. z.B. Entscheidung vom 11. November 2011 „Danosa“ C-232/09). Danach wird der Arbeitnehmerbegriff auch in Deutschland im Zweifel stets weit auszulegen sein, wenn das anzuwendende Recht auf Unionsrecht basiert. Zukünftig sind Organe in diesen Bereichen grundsätzlich als „Arbeitnehmer“ einzustufen, wenn sie weisungsabhängig einer vergüteten Tätigkeit nachgehen und nicht zumindest über eine Sperrminorität verfügen. Die Weisungsabhängigkeit wird dabei wohl schon dann bejaht werden müssen, wenn – wie meistens – eine Aufsicht durch die Gesellschaft erfolgt. Daneben wird man wohl konsequenterweise auch Geschäftsführer, Betriebsleiter und ähnliche leitende Personen, soweit diese zur selbständigen Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmern berechtigt sind – entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut von § 17 Abs. 5 Nr. 3 KSchG – bei der Berechnung der Schwellenwerte berücksichtigen müssen. Auch Praktikanten und „Umschüler“ sollten vorsorglich bei der Berechnung des Schwellenwerte mit berücksichtigt werden, jedenfalls dann, wenn solche Personengruppen „in der Regel“ im Betrieb beschäftigt werden.
Arbeitgebern ist dringend anzuraten, im Vorfeld einer Massenentlassung die Schwellenwerte vor diesem Hintergrund nach diesen Maßstäben gründlich zu prüfen. Die Tragweite einer fehlerhaften Nichtberücksichtigung zeigt sich im Ausgangsfall: Das Arbeitsgericht Verden wird die Kündigung wegen fehlender Anzeige als unwirksam beurteilen müssen.