Spätestens seit der Zeit der Industrialisierung ist der Kampf um sichere Arbeitsbedingungen ein Grundpfeiler des Arbeitnehmerschutzes. Bei dem Kampf gegen lebensgefährliche und lebensgefährdende Arbeitsbedingungen konnten dramatische Fortschritte gefeiert werden. Mit der Professionalisierung der Arbeitswelt und der fortschreitenden Produktivitätssteigerung (d.h. insbesondere Arbeitsverdichtung) hat sich der Schwerpunkt des Kampfes für sichere Arbeitsbedingungen jedoch verlagert. Es geht nicht mehr so sehr um Helmpflicht, Sicherheitsschuhe & Co. – vielmehr stehen in unserer zunehmenden dienstleistungsorientierten Arbeitsumgebung andere Aspekte im Vordergrund: die Ergonomie der Bildschirmarbeitsplätze, die richtige Beleuchtung und Klimatisierung, das Geräuschniveau sowie deren jeweilige Auswirkung auf den psychischen Gesundheitsstand von Arbeitnehmern.
Vor allem in ehemals staatlichen Unternehmen und Konzernen haben Betriebsräte ein lange weitgehend unbeachtetes Mitbestimmungsrecht in den vergangenen 20 Jahren für sich entdeckt – das erzwingbare Mitbestimmungsrecht bei Unfall- und Gesundheitsprävention. Hier haben Betriebsräte mithilfe von Einigungsstellen Regelungen erzwungen, in denen dem Arbeitgeber die Arbeitsumgebung bis ins Kleinste vorgeschrieben wurde – Mindestgröße von Büroräumlichkeiten, Art der Beleuchtung oder Belüftung, bis hin zu lichter Deckenhöhe und vielen weiteren Bestimmungen.
Reichweite der Mitbestimmung umstritten
Gerade bei solchen „Mindestarbeitsbedingungen“ ist im Schrifttum heftig umstritten, ob und inwieweit dem Betriebsrat überhaupt ein Mitbestimmungsrecht zusteht. Während § 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht bei „Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften“ zubilligt, sofern keine zwingende gesetzlichen Bestimmungen bestehen, räumen die §§ 90, 91 BetrVG, dem Betriebsrat „nur“ ein Unterrichtungs- und Beratungsrecht bei der Planung von Arbeitsplätzen ein. Ausschließlich dann, wenn die Planung des Arbeitgebers „den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit offensichtlich“ widerspricht, wird dem Betriebsrat ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht eingeräumt.
Dieser Wertungswiderspruch zwischen den §§ 90, 91 BetrVG und § 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG ist nach wie vor ungelöst. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Uferlosigkeit der denkbaren arbeitsplatzbezogenen Maßnahmen und die damit verbundenen Kosten ist dies eines der heißesten Themen im Betriebsverfassungsrecht.
Paukenschlag des LAG Nürnberg
Das LAG Nürnberg hat nun in einer Entscheidung vom 09.12.2015 (4 TaBV 13/14) einen gänzlich neuen Ansatz entwickelt. Nach seiner Auffassung steht dem Betriebsrat – auch nicht nach § 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG – kein erzwingbares Mitbestimmungsrecht bei der Gestaltung von Mindestarbeitsbedingungen zu. Insoweit seien die gesetzlichen Vorschriften des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG), der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) und der dazu ergangenen weiteren, auch technischen, Regelungen abschließend und verbindlich. Ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG käme nur dann in Betracht, wenn – auf Basis einer zuvor durchgeführten Gefährdungsbeurteilung – das Bestehen konkreter Gefährdungssituationen im Betrieb festgestellt worden sei, die (im Rahmen der gesetzlichen Regelung) Handlungsbedarf schüfen.
Damit fegt das LAG Nürnberg einen Großteil der Diskussionen– zunächst – elegant vom Tisch. Anders als beispielsweise das LAG Sachsen-Anhalt, welches die Abgrenzung zwischen §§ 90, 91 BetrVG einerseits und § 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG andererseits danach vornimmt, ob der Arbeitgeber eine gesundheitsschützende Maßnahme beabsichtige, vermeidet das LAG Nürnberg die – zweifelhafte – Anknüpfung an subjektive Elemente.
Es befreit die Betriebe und Betriebsparteien auch von dem ideologischen Grabenkrieg, ob generell eine bestimmte Belüftungsmethode, ein bestimmtes Geräuschniveau oder eine bestimmte technische Ausstattung unabdingbar für den Gesundheitsschutz der Mitarbeiter sind. Stattdessen führt es die Betriebsparteien auf Ihre Regelungsaufgabe zurück – die Regelung der konkreten Umstände im Betrieb. Bereits seit langem vertritt das Bundesarbeitsgericht die Auffassung, dass die Mitbestimmung des Betriebsrats an die Existenz konkreter Gesundheitsgefährdungen geknüpft sei. Insoweit ist es nur konsequent, wenn das LAG Nürnberg auch das Mitbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung des Gesundheitsschutzes von der Feststellung solcher konkreter Gefährdungslagen abhängig macht.
Gefährdungsbeurteilung an Flaschenhals?
Auch wenn Unternehmen zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung für jeden Arbeitsplatz verpflichtet sind zeigt die Praxis doch einen anderen Befund – viele Unternehmen haben noch keine Gefährdungsbeurteilung für ihre Arbeitsplätze durchgeführt. Insofern scheint an der Entscheidung und Argumentation des LAG Nürnberg einzig zweifelhaft, ob das Anknüpfen an eine Gefährdungsbeurteilung, die unter Umständen langwierig und streitig durchgeführt werden kann, tatsächlich das einzige Einfallstor für die Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG sein soll. Sofern Gesundheitsgefahren offenkundig sind, ist es im Interesse des Betriebs und der beschäftigten Arbeitnehmer wohl nicht richtig, zunächst eine Gefährdungsbeurteilung abwarten zu müssen.
Es wird spannend sein zu beobachten, wie das Bundesarbeitsgericht in der konkreten Frage entscheidet. Bislang ist es aus den unterschiedlichen Gründen noch nicht zu einer klärenden Positionierung des BAG gekommen. Die Zeiten bleiben also spannend…