Eine AG hat zwei Aktionäre, der eine mit 45 000, der andere mit 5 000 Aktien. Auf der HV wird abgestimmt: der Beschluss wird mit 90% zu 10% der Stimmen gefasst. So steht es im notariellen Protokoll. Das genügt dem BGH grundsätzlich nicht, es sollen Zahlen her. Eine neue Entscheidung vom 10.10.2017 (II ZR 375/15) macht davon eine Ausnahme, wenn sich „das zahlenmäßige Abstimmungsergebnis auch in nicht einfachen Verhältnissen so errechnen lässt, dass danach keine Zweifel über die Ablehnung oder Annahme des Antrags und die Ordnungsmäßigkeit der Beschlussfassung verbleiben“, Rn. 62. Damit werde nicht die Beurkundungspflicht eingeschränkt, sondern die Rechtsfolgen einer fehlerhaften Beurkundung beschränkt, erklärt listig der Senat.
Knallhart bleibt der Senat, wenn es um die „Art der Abstimmung“ (§ 130 II 1 AktG) geht – auch dann, wenn nur zwei Aktionäre (!) beteiligt sind. Rn. 23: „Die Art der Abstimmung ist allein mit einer offenen Abstimmung nicht näher bestimmt. Offen kann in verschiedener Weise abgestimmt werden (durch Zuruf, durch Handerheben, durch andere Gesten).“ Folgerichtig müsste Nichtigkeit sogar angenommen werden, wenn beide Aktionäre nicken, also zustimmen, aber das Nicken nicht vermerkt wird. Doch was ist gewonnen, wenn der Notar die Gesten der beiden Akteure beschreibt? Welcher Rechtssicherheit soll das dienen? Der Senat rettet die Lage, indem er großzügig dem Notar zugesteht, auch nach „Entäußerung“ das Protokoll durch eine ergänzende Niederschrift zu berichtigen.
Das für die amtliche Sammlung bestimmte Urteil macht wieder einmal deutlich, dass die Nichtigkeitssanktion bei fehlerhaften Niederschriften eine oft überschießende Folge ist. Sie ist zum Teil eingehegt, weil die Eintragung im Handelsregister heilt (§ 242 I AktG). Aber für nicht einzutragende Beschlüsse (wie im BGH-Fall: Aufsichtsratswahl) fehlt es an einer Heilungsoption. So muss eine einschränkende Anwendung helfen, die der BGH bei fehlenden Abstimmungszahlen immerhin für möglich hält und indem er bei der Art der Abstimmung eine nachträgliche Korrektur zulässt. Das geht in die richtige Richtung einer teleologischen Reduktion, wie sie auch in der Fachliteratur gefordert wird (Noack/Zetzsche, Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2017, § 241 Rn. 72).
Letztlich ist der Gesetzgeber gefordert, die Nichtigkeitsgründe, insbesondere den § 241 Nr. 2 AktG, zu stutzen. Warum sollen die AG und ihre Aktionäre (ohne Befristung!) darunter leiden, wenn der Notar bzw. der Vorsitzende des Aufsichtsrats eine unzulängliche Niederschrift anfertigen? Denn dabei handelt es sich um einen formellen, nicht um einen materiellen Verstoß. Der Arbeitskreis Beschlussmängelrecht hat vor fast 10 Jahren vorgeschlagen, Nichtigkeit nur bei völligem Fehlen einer Niederschrift eintreten zu lassen (AG 2008, 617). Noch weitergehend wird im Schrifttum dafür plädiert, die Beurkundung ganz aus dem Kreis der Nichtigkeitsgründe auszusortieren (Bayer/Fiebelkorn ZIP 2012, 2181). Diesen Vorstößen nahetretend Seibert/Hartmann (FS Stilz, 2013, S. 585, 599): „Bedenkenswert ist es, den Nichtigkeitskatalog in § 241 AktG nach dem Vorbild des Reformentwurfs zu verkürzen, um bestehende Wertungswidersprüche und Rechtsunsicherheit zu beseitigen. So erscheint der allgemeine Anfechtungstatbestand des § 243 AktG und die hierzu entwickelte Relevanztheorie besser geeignet, um die Rechtsfolgen bei Verstößen gegen Formvorschriften wie § 130 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 AktG sachgerecht zu bemessen.“ Man darf gespannt sein, wie sich der Deutsche Juristentag 2018, der sich mit dem Gesamtthema Beschlussmängelrecht befasst, dazu positioniert.
Redaktioneller Hinweis:
Vgl. zum Thema Hauptversammlung auch:
Rieckers, Nachlese zur Hauptversammlungssaison 2017 und Ausblick auf 2018 (Teil 1 und 2), DB 2017 S. 2720 und S. 2786