In seinen beiden Urteilen vom 20.11.2018 (1 AZR 189/17 und 1 AZR 12/17) hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass ein Arbeitgeber es – abhängig vom konkreten Einzelfall – dulden muss, dass Streikmaßnahmen auf dem von ihm angemieteten Betriebsgelände stattfinden, auch wenn er dieses kraft ausdrücklicher Beschilderung der Nutzung durch die Öffentlichkeit entzogen hat.
Die beiden Ausgangsfälle
Beiden Urteilen lag ein im Wesentlichen parallel gelagerter Sachverhalt zugrunde: Die Arbeitgeberinnen betreiben jeweils ein Logistikzentrum, das in einem außerörtlichen Gewerbegebiet gelegen ist. Hierzu gehört ein Betriebsgebäude, das über einen zentralen Eingang zugänglich ist sowie ein großer Parkplatz, der zur Nutzung für die überwiegend mit dem Auto zur Arbeit kommenden Mitarbeiter bestimmt ist. Die Nutzung des Betriebsparkplatzes für Unbefugte ist durch entsprechende Beschilderung ausdrücklich untersagt. Die klagenden Arbeitgeberinnen wurden in den Jahren 2014 bzw. 2015 tageweise bestreikt. Hierbei hielt sich die streikführende Gewerkschaft mit den streikenden Arbeitnehmern auf dem zum Betriebsgelände der Klägerinnen gehörenden Betriebsparkplatz auf und dort direkt am Haupteingang zum Betriebsgebäude, den sämtliche Mitarbeiter passieren müssen, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Auch nachdem die Arbeitgeberinnen die Gewerkschaft aufgefordert hatten, das Betriebsgelände mit den streikenden Arbeitnehmern zu verlassen, leistete die Gewerkschaft dem keine Folge. Die beklagte Gewerkschaft argumentierte, für sie sei es essentiell, den Arbeitskampf auf dem Betriebsgelände der Klägerinnen und dort direkt vor dem Eingang zum Betriebsgebäude durchführen zu können, um zur Arbeit erscheinende Arbeitnehmer zum Mitstreiken zu mobilisieren.
Die Entscheidungen: Möglichkeit der streikführenden Gewerkschaft zur Kommunikation mit den zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmern als wesentliches Argument
Der für Arbeitskampfsachen zuständige 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts gab der beklagten Gewerkschaft nach Abwägung der auf beiden Seiten streitenden Grundrechte mit der Begründung Recht, aufgrund der konkreten Umstände in den beiden Fällen sei es der Gewerkschaft unzumutbar, den Arbeitskampf nicht direkt vor dem Eingang zum Betriebsgebäude durchzuführen. Obwohl die klagenden Arbeitgeberinnen unter Nennung konkreter Beispiele deutlich gemacht hatten, dass die Gewerkschaft bei Durchführung des Streiks an einem anderen Ort durchaus die Möglichkeit hätte, mit nicht-streikenden Arbeitnehmern in Kontakt zu treten, erteilte der 1. Senat dem eine Absage. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten könne die Gewerkschaft ausschließlich mit den zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmern kommunizieren, wenn der Streik direkt vor dem Haupteingang auf dem Betriebsgelände der Klägerinnen stattfinde. Eine kurzzeitige, situative Beeinträchtigung ihres durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Besitzes an dem Betriebsgelände hätten die Arbeitgeberinnen hinzunehmen.
Bewertung
Die beiden Urteile vermögen weder hinsichtlich der (derzeit nur als Pressemitteilung vorliegenden) Begründung noch im Ergebnis zu überzeugen:
Den bisher ergangenen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zum Verhältnis Grundrecht des Arbeitgebers aus Art. 14 Abs. 1 GG einerseits und durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft andererseits war deutlich zu entnehmen, dass eine vom Arbeitgeber nicht zu tolerierende Grenze erreicht ist, wenn es um Betriebsmittel des Arbeitgebers geht, die die Gewerkschaft für ihren Arbeitskampf nutzt. So hatten die Erfurter Richter in ihrem Urteil vom 15.10.2013 (Az.: 1 ABR 31/12) entschieden, dass es nicht zulässig ist, eine betriebliche E-Mail-Adresse dazu zu verwenden, um einen Streikaufruf zu versenden. Der Arbeitgeber müsse nicht an seiner eigenen streikbedingten Schädigung mitwirken. Es sei alleinige Aufgabe der Gewerkschaft, Arbeitnehmer zur Teilnahme am Arbeitskampf zu motivieren. Hierzu habe sie andere Möglichkeiten als die Nutzung der arbeitgeberseitigen Kommunikationsmittel. Dass der 1. Senat zu einem anderen Ergebnis kommt, wenn es um die Nutzung des vom Arbeitgeber angemieteten Betriebsgeländes geht, das ebenfalls zu den Betriebsmitteln zählt, ist nicht nachvollziehbar.
Auch bewegen sich die beiden Urteile vom 20.11.2018 nicht auf einer Linie mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Versammlungsfreiheit und dem Hausrecht. In zwei aus den Jahren 2011 bzw. 2015 stammenden Entscheidungen (Az. 1 BvR 699/06 und Az. 1 BvQ 25/15) hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass die durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Versammlungsfreiheit kein Zutrittsrecht zu nichtöffentlichen bzw. nicht als öffentliches Forum genutzten Orten gewährt.
Praktische Auswirkungen
Auch wenn die streikführende Gewerkschaft in den beiden am 20.11.2018 entschiedenen Fällen obsiegt hat, so ist zu beachten, dass das Bundesarbeitsgericht Gewerkschaften keinen Freibrief erteilt hat, stets auf dem Betriebsgelände zu streiken. Vielmehr hebt der 1. Senat bereits in seiner Pressemitteilung klar hervor, dass in den beiden zu entscheidenden Fällen insbesondere die örtlichen Gegebenheiten und die nur kurzzeitige Beeinträchtigung entscheidend waren. Nur weil das Gericht unter Berücksichtigung dieser besonderen Umstände nicht erkennen konnte, dass die Gewerkschaft auch bei Durchführung des Streiks an einem anderen Ort eine realistische Möglichkeit gehabt hätte, mit den nicht-streikenden Arbeitnehmern in Kontakt zu treten, wies es die Klagen der Arbeitgeberinnen ab, die Unterlassung des Arbeitskampfes auf dem Betriebsparkplatz vor dem Haupteingang beantragt hatten.
Bei länger dauernden Arbeitskampfmaßnahmen oder gar bei Störungen des Betriebsablaufs wird ein Arbeitgeber Streiks auf dem Betriebsgelände ebenfalls nicht hinzunehmen haben. Dies bringt die Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts klar zum Ausdruck, wenn von einer „kurzzeitigen“, „situativen“ Beeinträchtigung des Besitzes die Rede ist, die der Arbeitgeber nach Auffassung der Erfurter Richter in bestimmten Fällen zu dulden hat.
Stark anzunehmen ist des Weiteren, dass Arbeitskampfmaßnahmen im Betriebsgebäude selbst nicht zulässig wären, da in diesem Fall der dem Arbeitgeber durch Art. 14 Abs. 1 GG gewährte Schutz überwiegen sollte und die streikführende Gewerkschaft zumindest im Regelfall auch die Möglichkeit haben wird, außerhalb des Betriebsgebäudes mit nicht-streikenden Arbeitnehmern in Kontakt zu treten.
Zwar hat das Bundesarbeitsgericht Arbeitskampfmaßnahmen auf dem Betriebsgelände nicht grundsätzlich verboten. Dies bedeutet für Unternehmen aber nicht, dass sie ihr Betriebsgelände der Gewerkschaft stets und in allen Fällen für deren Arbeitskampf zur Verfügung stellen müssen. Wie so oft wird es auf die Umstände des Einzelfalls ankommen.
Wünschenswert wäre es, dass das Bundesarbeitsgericht zumindest in den Entscheidungsgründen der beiden Urteile klarstellt, welche Fälle er nicht mehr als „kurzzeitige“, „situative“ Besitzstörung betrachtet, so dass ein Recht der streikführenden Gewerkschaft nicht besteht, das Betriebsgelände während ihres Arbeitskampfes zu nutzen. Ohne eine solche Klarstellung würden die beiden Entscheidungen vom 20. November 2018 für die Praxis Steine statt Brot bedeuten.