Digitale Avantgarde: Deutschland wird Vorreiter bei der kartellrechtlichen Regulierung digitaler Märkte

RA Dr. Falk Schöning ist Partner der Praxisgruppe Kartellrecht von Hogan Lovells / RA Christian Ritz, LL.M. (USYD) ist Counsel in der Praxisgruppe Kartellrecht von Hogan Lovells

Deutschland gibt sich ein ambitioniertes neues Digital-Kartellrecht, um Onlinemärkte besser zu regulieren. In einer zweiteiligen Blogserie stellen wir die wichtigsten Neuerungen vor und was sie für Unternehmen und Verbraucher bedeuten.

Zerschlagung, Aufspaltung, Regulierung. Beinahe täglich sind politische Forderungen zu lesen, wie mit den scheinbar übermächtigen digitalen Giganten aus dem Silicon Valley oder aus China umzugehen sei. Laut einer weltweiten Studie der internationalen Wirtschaftskanzlei Hogan Lovells zur Regulierung von Technologiemärkten gab es allein im ersten Halbjahr 2019 über 450 politische Initiativen, die für eine härtere Gangart gegenüber „Big Tech“ plädieren. Gleichwohl: die konkrete Umsetzung solcher oft populistisch angehauchter Vorschläge steht noch weitgehend aus.

Vielleicht liegt dies daran, dass die richtigen Instrumente zum Umgang mit digitalen Unternehmen noch immer nicht gefunden sind. Von der französischen Digitalsteuer, die jüngst zum Streit zwischen dem französischen Präsidenten Macron und US-Präsident Donald Trump führte, über die Verantwortlichkeit für User-Kommentare in sozialen Netzwerken zu Urheberrechtsverstößen von hochgeladenen Inhalten auf Videoplattformen: die juristischen Fragen im Zusammenhang mit Online-Geschäftsmodellen sind  hochkomplex und schwer zu einem einheitlichen Werkzeugkasten zusammenzufassen.

Das kartellrechtliche Schwert

Als besonders scharfes Schwert im Kampf gegen Marktmacht im Internet hat sich in den letzten Jahren das Kartellrecht entwickelt. EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager machte sich einen Namen mit Milliardengeldbußen und Steuerrückforderungen gegen Unternehmen vor allem aus dem Silicon Valley. In der nächsten EU-Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen soll ihr zusätzlich noch die Verantwortlichkeit für das Digitalressort zukommen und mit dieser Doppelrolle die Bedeutung des Kartellrechts weiter gestärkt werden. In Deutschland war das Bundeskartellamt mit seinem Präsidenten Andreas Mundt nicht weniger ambitioniert und nutzte seine kartellrechtlichen Befugnisse, um Einfluss auf Online-Marktplätze und soziale Netzwerke zu nehmen. Angesichts dieser vermeintlichen Erfolge verwundert  nicht, dass rund ein Viertel der politischen Vorschläge, die die Hogan Lovells-Regulierungsstudie im ersten Halbjahr 2019 erfasste, eine weitere Verschärfung der kartellrechtlichen Instrumente gegenüber Tech-Unternehmen betreffen.

Der Großteil dieser Vorschläge kam bislang aber nicht über das Debattenstadium hinaus. Deutschland setzt mit dem vom BMWi in die Ressortabstimmung gegebenen Referentenentwurf der 10. GWB-Novelle („GWB-Digitalisierungsgesetz“) nun jedoch auf ein konkretes gesetzgeberisches Vorhaben, um das Bundeskartellamt mit mehr Kompetenzen auszustatten und sich an die Spitze globaler Regulierer zu setzen.

Gut zwei Jahre nach der letzten Überarbeitung wird Deutschland mit der geplanten Novellierung den nächsten Schritt zu einer schärferen kartellrechtlichen Regulierung von Unternehmen mit digitalen Geschäftsmodellen vollziehen. Laut Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier sollen durch die geplante Neuregelung „die Spielregeln für marktbeherrschende Plattformen [verschärft] und [der] Markt- und Datenzugang von Wettbewerbern [verbessert]“ werden. Hinter dieser noch vagen Ankündigung versteckt sich ein äußerst ambitioniertes Programm, das das Zeug hat, Deutschland zum Vorreiter bei der kartellrechtlichen Regulierung digitaler Märkte zu machen. Einige Vorschläge der Novelle werden im Silicon Valley und in China wahrscheinlich besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 

Die wichtigsten Neuerungen auf einen Blick:

So sieht der Entwurf für das GWB-Digitalisierungsgesetz vor,

  • den Zugang zu „wettbewerbsrelevanten Daten“ als einen Faktor bei der Bestimmung einer marktbeherrschenden Stellung heranzuziehen und die Zugangsverweigerung zu solchen Daten als einen kartellrechtlichen Missbrauch anzusehen
  • gegenüber großen Digitalplattformen per Verfügung des Kartellamts erst festzustellen, dass diese eine „überragende marktübergreifende Bedeutung“ haben und diese in einem zweiten Schritt strengeren kartellrechtlichen Maßstäben zu unterwerfen
  • die Rolle von sogenannten „Intermediären“ zu regeln, also z.B. mehrseitigen digitalen Plattformen, die mit ihrem Geschäftsmodell auf die Sammlung, Aggregation und Auswertung von Daten zur Vermittlung von Angebot und Nachfrage zwischen Nutzergruppen ausgerichtet sind
  • einen ausdrücklichen Eingriffstatbestand zur Verringerung der wettbewerblichen Probleme durch das sog. „Tipping“ von Märkten zu schaffen, also das „Umkippen“ eines Marktes mit mehreren Anbietern zu einem monopolistischen bzw. hochkonzentrierten Markt
  • nicht nur wie bislang kleine und mittlere Unternehmen vor sogenannter relativer Marktmacht größerer Konzerne zu schützen, wenn sie von diesen abhängig waren. Zukünftig können sich alle Marktteilnehmer, selbst große Konzerne, auf diesen Schutz berufen, was verdeutlicht, wie sehr große Technologiekonzerne aus Sicht des Gesetzgebers inzwischen anderen Unternehmen überlegen sind
  • es dem Bundeskartellamt zu erleichtern, zukünftig einstweilige Maßnahmen gegen mögliche Wettbewerbsverstöße zu ergreifen. Damit soll vermieden werden, dass während jahrelanger Ermittlungen die Märkte bereits soweit monopolisiert oder „gekippt“ sind, dass jegliches Eingreifen zu spät kommt
  • Unternehmen bzgl. geplanter horizontaler Kooperationen bei einem „erheblichen rechtlichen und wirtschaftlichen Interesse“ einen Anspruch auf eine Entscheidung des Bundeskartellamts zu geben, dass kein Anlass besteht, tätig zu werden.

Mit den einzelnen Vorschlägen beschäftigen sich die Verf. detaillierter in Teil 2 dieser Blogserie. 

Hintergrund der Neuerungen

Bereits jetzt ist aber festzuhalten, dass das BMWi mit der Reform bemüht ist, auf europäischer und internationaler Ebene Fakten zu schaffen und Deutschland, wenn schon nicht auf dem Gebiet von „Big Tech“, so doch bei dessen Regulierung als Vorreiter zu positionieren. Die geplante Novelle ist dabei Ausfluss einer intensiven internationalen Diskussion, die sowohl durch einzelne Leuchtturmverfahren von Kartellbehörden weltweit als auch durch wissenschaftliche Analysen befeuert wird. Allein in den vergangenen zwölf Monaten wurde die Debatte u.a. durch die folgenden Studien und Stellungnahmen vorangetrieben:

Deutschland versteht sich sowohl auf Regierungsebene in Berlin als auch aufseiten des Bundeskartellamts in Bonn schon seit einigen Jahren als Pionier bei der Anpassung des Kartellrechts an die Digitalwirtschaft. Dieses Selbstverständnis lag bereits den Diskussionen über die 9. GWB‑Novelle zugrunde, die eine neue Aufgreifschwelle in der Fusionskontrolle einführte. Diese berücksichtigt den Kaufpreis eines Unternehmens anstelle seiner Umsätze, um sogenannte ‚Killer-Acquisitions‘ von innovativen Start-ups v.a. in der Tech- und Pharma-Branche zu verhindern. Weiterhin wurde im Zuge der 9. GWB-Novelle klargestellt, dass ein Markt im kartellrechtlichen Sinne nicht nur bei entgeltlichen, sondern auch bei kostenlosen Leistungen (wie z.B. bei Online-Suchen oder sozialen Netzwerken) bestehen kann.

Diese Änderungen hatten jedoch bislang nicht das Ziel, ein eigenes „Digitalkartellgesetz“ zu schaffen. Die offizielle Bezeichnung der 10. GWB-Novelle zeigt nun aber deutlich die gesteigerten Ambitionen: Nicht weniger als ein „GWB-Digitalisierungsgesetz“ schlägt das BMWi jetzt vor. Zwar bleibt das deutsche Kartellrecht selbstverständlich weiterhin auf alle Branchen anwendbar und integriert die vorgeschlagenen Änderungen in die bestehenden Normen. Für Rechtsanwender bleibt das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen („GWB“) also weiter das Maß der Dinge. Im Bereich digitaler Märkte dürften dem Bundeskartellamt nach Verabschiedung der Novelle jedoch weit mehr Instrumente zur Verfügung stehen als anderen Behörden.

Daneben implementiert der Referentenentwurf in weiten Teilen die EU-Richtlinie „zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften“ („ECN+-Richtlinie“), hebt die zweite Umsatzschwelle in der Fusionskontrolle von fünf auf zehn Millionen Euro an und verlängert die Frist im Hauptprüfungsverfahren von vier auf fünf Monate. Schließlich will das BMWi Anpassungen bei der Ministererlaubnis sowie im Bereich Kartellschadensersatz vornehmen, die jedoch insgesamt überschaubar ausfallen.

Digitaler Vorreiter oder nationaler Einzelgänger?

Deutschland schreitet mit der Novelle weit voran, was die kartellrechtliche Regulierung digitaler Märkte angeht. Unabhängig davon, ob man die Zielsetzung des BMWi zu mehr Intervention im Internet teilt, stellen sich aber einige grundsätzliche rechtspolitische Fragen: Kaum ein Wirtschaftsbereich ist globaler als die Onlinewirtschaft. Die großen Online-Player sind auf fast allen Märkten in Amerika, Europa und – mit einigen Ausnahmen in China, Südkorea und Japan – auch in Asien vertreten. Wieso dann eine deutsche und keine europäische Lösung? Wäre die EU-Kommission mit ihrer durchsetzungsstarken Wettbewerbskommissarin Vestager und dem neu gewonnenen Digitalportfolio nicht besser positioniert, ein gesamteuropäisches „Level Playing Field“ zu schaffen?

Nun hat gerade das Bundeskartellamt in den letzten Jahren keinen Zweifel daran gelassen, dass es die Anwendung des Kartellrechts im Digitalbereich als geteilte Aufgabe von Kommission und mitgliedstaatlichen Behörden ansieht. Da sich die Auswirkungen digitaler Geschäftsmodelle nicht abstrakt im Internet, sondern vor Ort im Wirtschaftsleben zeigen, ist das auch legitim. Allerdings könnte die Kehrseite der Medaille sein, dass ein Flickenteppich unterschiedlicher kartellrechtlicher Regelungen in der EU entsteht, zumal mit Großbritannien ein wichtiger und innovativer Digitalmarkt in absehbarer Zeit nicht mehr Teil des Binnenmarktes sein wird. Diese Fragmentierung träfe nicht nur die großen Plattformen, sondern genauso die kleineren deutschen und europäischen Start-ups, deren größtes Problem im Vergleich zur US-Konkurrenz die fehlende Skalierbarkeit der Märkte ist.

Vielleicht kommt es aber auch ganz anders und der deutsche Entwurf – so er sich in der Praxis bewährt – wird zur Blaupause für andere EU- und außereuropäische Länder. Das Beispiel der EU‑Datenschutzgrundverordnung zeigt, dass die erste Rechtsordnung, die verbindliche Rahmenbedingungen im Internet schafft, damit Standards setzen kann, die weit über das rechtliche Anwendungsgebiet hinausgehen. Inzwischen hat z.B. Kalifornien nachgezogen und vergleichbare Datenschutzstandards eingeführt.

Wenn es Deutschland mit seinem ambitionierten digitalen Kartellrecht gelingt, Maßstäbe für die den Kartellbehörden zur Verfügung stehenden Instrumente zu setzen und das Bundeskartellamt diese maßvoll und erfolgreich einsetzt, wird Deutschland möglicherweise bald zur digitalen Avantgarde zählen – wenn auch erst einmal nur im Kartellrecht und nicht im Konzert der großen Tech-Unternehmen.

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