Die HV-Saison 2020 neigt sich im Juli schon dem Ende entgegen, sie ist bzw. war eine besondere. Börsennotierte Gesellschaften haben von der gesetzlich eingeräumten Möglichkeit regen Gebrauch gemacht, die HV ohne physisch präsente Aktionäre abzuhalten (virtuelle HV – VHV). Die blitzartige Umstellung auf das digitale Format ist sehr bemerkenswert. Soweit ersichtlich hat die technische Durchführung kaum Probleme bereitet, insbesondere die audiovisuelle Zuschaltung der Aktionäre ist durchweg gelungen. Die Gesellschaften haben sich für eine Adaption der Vorgänge bei einer Präsenz-HV entschieden, die medialen bzw. digitalen Optionen einer virtuellen Zusammenkunft blieben meist ungenutzt. Aktionärsvereinigungen und manche Investmentfonds hätten zwar lieber die Bühne einer Präsenz-HV, was verständlich ist. Die Beteiligung dieser wichtigen Akteure lässt sich auch virtuell erreichen, wie die Vonovia SE gezeigt hat, die Stellungnahmen von DSW und SdK einspielte; die Deutsche Bank AG veröffentlichte Fragen ihrer Aktionäre auf ihrer Internetseite und bot ein begleitendes Forum an.
Die virtuelle Durchführung eignet sich besonders für außerordentliche Hauptversammlungen (Rhön-Klinikum AG am 3.6.2020; Lufthansa AG am 25.6.2020; Siemens AG am 9.7.2020). Der Aufwand für eine kurzfristig buchbare Location entfällt nebst allem Drumherum. Wenn es die VHV auch nach Corona noch gibt, würde das die Corporate Governance ziemlich beeinflussen, da mit ihr eine schnelle Aktionärsentscheidung möglich wäre. Das Argument, die HV sei zu schwerfällig und deshalb könne sie nicht mitreden, entfiele weithin.
Alle Gesellschaften haben sowohl die (elektronische) Briefwahl als auch eine gesellschaftsbenannte Stimmrechtsvertretung angeboten; eine elektronische Teilnahme gab es daneben fast nirgends. Die Fragemöglichkeit wurde überwiegend so gehandhabt, dass die Fragen 2 Tage vorher einzureichen waren; auf der VHV wurden sie verlesen (auf Wunsch mit Namen des Aktionärs) und hintereinander beantwortet. Diese Prozedur zog die VHV gehörig in die Länge. Manche Gesellschaften haben die Fragen zusammengefasst bzw. erkennbar eine Fragenstruktur abgearbeitet. Wer durchhielt, konnte bis zum Beginn des Abstimmungsvorgangs noch sein Stimmverhalten ändern.
Zahlreiche weitere Probleme und Problemchen sind aufgetaucht (gibt es einen „Ort“ der VHV? Wie berechnet man die Fragefrist 2 Tage vor der VHV? Wer muss physisch präsent sein? Was ist mit dem Notar? Wie ist das mit Gegenanträgen?), die hier dahinstehen mögen. Eine eingehende Diskussion würde sich nur lohnen, wenn es die VHV auch im Jahr 2021 und darüber hinaus gibt. Von Gesetzes wegen ist sie nur bis zum 31.12.2020 möglich, allerdings mit einer Verlängerungsoption kraft Rechtsverordnung des Bundesjustizministeriums im Hinblick auf die Pandemielage.
Den Verwaltungen der Gesellschaften gefällt die VHV schon wegen der deutlich geringeren Kosten, manchen auch wegen des geringeren Stress´ verglichen mit Ad-Hoc-Fragen und gar einem Saal tobender Aktionäre. Dennoch haben die Vorstandsvorsitzenden ihre HV-Rede gerne so begonnen: „Viel lieber würde ich Sie heute persönlich vor Ort begrüßen, mir fehlt der Austausch mit Ihnen …“. Das muss man nicht für bare Münze nehmen. Wie es mit der Stimmen- bzw. Kapitalpräsenz bei den virtuellen HV im Vergleich zur Saal-HV aussieht, wird eine Auswertung am Jahresende zeigen. Prognose: Die VHV gewinnt.
Die Alternative zur VHV, eine Präsenz-HV mit angebotener Online-Teilhabe, also eine hybride Gestaltung, konnte nicht verfangen, aus mehreren Gründen: (1) Die physische Präsenz lässt sich nicht steuern; kommen zu viele Aktionäre, ist wegen der Pandemie-Restriktionen eine Versammlung nicht oder nicht zumutbar möglich; (2) die volle Online-Teilhabe iSv § 118 I 2 AktG kostet extra und sie ist unerprobt; (3) der Ausschluss des Auskunftsrechts – stattdessen nur Fragemöglichkeiten – gilt für die präsenten Aktionäre nicht; (4) ebenso wenig greift für sie der weitgehende Ausschluss des Anfechtungsrechts.