Ein Unternehmer besucht aus geschäftlichen Gründen eine viertägige Messe in den USA und hängt zu Erholungszwecken noch ein verlängertes Wochenende dran. Sind die Kosten für die Flugreise teilweise abzugsfähig? Die Rechtsprechung hat dies früher verneint und ließ auch keine Aufteilung der Kosten in einen beruflichen oder einen privaten Anteil zu. Das hat sich jetzt geändert.Aus dem Wortlaut des Gesetzes (§ 12 Nr. 1 Satz 2 Einkommensteuergesetz) lässt sich ein Aufteilungsverbot nicht entnehmen. Der Große Senat des BFH hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1970 (Beschluss vom 19. 10. 1970 – Gr S 2/70, BStBl. II 1971 S. 17) das Argument der Steuergerechtigkeit bemüht, um eine Aufteilung zu untersagen: „Es soll verhütet werden, daß Steuerpflichtige durch eine mehr oder weniger zufällige oder bewußt herbeigeführte Verbindung von beruflichen und privaten Erwägungen Aufwendungen für ihre Lebensführung nur deshalb zum Teil in einen einkommensteuerlich relevanten Bereich verlagern können, weil sie einen entsprechenden Beruf haben […]. Die Vorschrift will weiter im Interesse der steuerlichen Gerechtigkeit verhüten, daß solche Aufwendungen als vom Steuerpflichtigen durch den Betrieb veranlaßt dargestellt werden […].“
Vierzig Jahre lang hat die finanzgerichtliche Rechtsprechung an dem Dogma, ein Aufteilungsverbot entspreche der steuerlichen Gerechtigkeit, festgehalten und nur in wenigen Ausnahmefällen Durchbrechungen zugelassen. Über Jahrzehnte wurde also der Abzug zweifelsfrei auch beruflich veranlasster Aufwendungen „im Interesse der steuerlichen Gerechtigkeit“ verweigert. Die Rechtsprechung hat bei gemischten Aufwendungen gewissermaßen immer den Vorrang der privaten Motivation unterstellt, was dazu führte, dass der Steuerpflichtige seine Flugkosten selbst dann nicht abziehen konnte, wenn er das verlängerte Wochenende nur deshalb dranhängte, weil sich z. B. die Flugkosten dadurch um die Hälfte verringerten. Um den steuerlichen Abzug zu sichern, war er gezwungen, die erheblich teurere Rückreise unter der Woche (nach Abschluss der Messe) anzutreten. Was „gerecht“ ist, unterliegt dem Zeitgeist. Was heute gerecht erscheint, wird morgen als ungerecht wahrgenommen. Das gilt für die Steuergesetzgebung ebenso wie die Steuerrechtsprechung. Im Unterschied zur Steuergesetzgebung, die sich dem Zeitgeist anpassen („modernisieren“) muss, ist die Rechtsprechung an Normen, die einen mehr oder minder klar formulierten Wortlaut haben, gebunden. Und der Wortlaut des § 12 Nr. 1 Satz 2 Einkommensteuergesetz sagt nur, dass Aufwendungen für die Lebensführung nicht abzugsfähig sind, „auch wenn sie zur Förderung des Berufs oder der Tätigkeit des Steuerpflichtigen erfolgen“.
Daraus ein Abzugsverbot zu folgern, erscheint der Rechtsprechung heute ungerecht. Es war wieder der Große Senat des BFH, der am 21. 9. 2009 (Beschluss – GrS 1/06, BStBl. II 2010 S. 672 = DB 2010 S. 143) entschieden hat, dass gemischt veranlasste Aufwendungen nunmehr abzugsfähig sind, sofern eine Aufteilung nach objektiven Kriterien möglich ist. Und wieder argumentiert der BFH u. a. mit der Steuergerechtigkeit. Er verweist darauf, dass erst eine Aufteilung der Kosten in einen abzugsfähigen und einen nicht abzugsfähigen Teil sicherstelle, dass der Steuerpflichtige nach seiner Leistungsfähigkeit besteuert werde und fährt fort: „Das Gebot der Steuergerechtigkeit (Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit) vermag also ein generelles Aufteilungs- und Abzugsverbot, das auch einen zweifelsfrei nachgewiesenen beruflichen Kostenanteil nicht zum Abzug als Betriebsausgaben oder Werbungskosten zulässt, nicht zu rechtfertigen; vielmehr gebietet das Leistungsfähigkeitsprinzip die Berücksichtigung des beruflichen Anteils durch Aufteilung, notfalls durch Schätzung.“
Was lehrt uns diese Kehrtwendung der Rechtsprechung? Auf Gerechtigkeitsargumente kann man sich schlecht verlassen; denn niemand weiß genau, was Steuergerechtigkeit eigentlich ist. Als gerecht wird bekanntlich sowohl der progressive als auch der proportionale Steuertarif angesehen. Und selbst Extrempositionen wie die Abschaffung der Steuerpflicht und Umstellung auf freiwillige Beiträge werden – wie jüngst vom Philosophen Peter Sloterdijk – im Namen der Gerechtigkeit vorgetragen. Deshalb kann man fragen: Ist es gerecht – so die frühere Rechtsprechung –, aus Gründen der Missbrauchsvorbeugung (der Steuerpflichtige möchte Urlaub machen und verbindet dies mit einem vorgeschobenen Tagungsbesuch) allen Steuerpflichtigen unlautere Motive zu unterstellen? Oder ist es gerecht – so die neue Rechtsprechung, sich am Leistungsfähigkeitsprinzip zu orientieren, die Aufteilung zuzulassen, auch wenn es Fälle geben mag, in denen der berufliche Anteil keine Rolle spielt, dies aber vertuscht wird und nicht kontrollierbar ist? Eine Grundfrage, die sich vor allem für die Gesetzgebung stellt und die ans Menschenbild im Steuerrecht heranreicht: Soll der Staat grundsätzlich vom guten, d.h. lauteren Menschen oder vom schlechten, d.h., unlauteren Menschen ausgehen? Wahrscheinlich gibt es kein Entweder-Oder. Sicher ist aber, dass die Rechtsprechung in erster Linie vom Wortlaut einer gesetzlichen Norm ausgehen sollte, die sie der Entscheidung zugrundelegt. Und dieser enthielt nun mal kein Aufteilungsverbot. Deshalb ist die neue Entscheidung des Großen Senats auch zu begrüßen.