Die obersten Finanzbehörden bedienen sich gelegentlich sog. Nichtanwendungserlasse (NAE) um die Wirkung „missliebiger“ Entscheidungen des BFH über den entschiedenen Einzelfall hinaus zu vermeiden. Durch einen solchen Erlass wird die Finanzverwaltung angewiesen, eine Entscheidung des BFH nicht über den Einzelfall hinaus anzuwenden. Diese Form der „Umgehung“ der Rechtsprechung ist seit jeher stark umstritten und wird heftig kritisiert. Interessanterweise gibt es derartige NAE auch fast ausschließlich im Steuerrecht. M .E. ist der zulässige Anwendungsbereich von NAE äußerst beschränkt auf besondere Einzelfälle, jedenfalls ist die heutige Praxis der Finanzverwaltung unzulässig.
Die Bundesregierung rechtfertigt die Anwendung von NAE mit der Erklärung, dass Entscheidungen gemäß § 110 Finanzgerichtsordnung grundsätzlich nur zwischen den Parteien (inter partes) wirken. Die NAE seien daher nur das Ergebnis der Überprüfung der obersten Finanzbehörden bzgl. der Anwendung der Entscheidung über den konkreten Einzelfall hinaus. Zu dieser Prüfung sei die Verwaltung auf Grund von Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz berechtigt und verpflichtet. Die Erlasse dienten daher der Rechtssicherheit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung.
Das gerichtliche Entscheidungen – mit Ausnahme die des BVerfG – grundsätzlich nur zwischen den Parteien wirken, ist zweifelsfrei. Dies ist für die finanzgerichtlichen Urteile in § 119 Finanzgerichtsordnung so ausdrücklich geregelt. Eine direkte Wirkung auf weitere Einzelfälle ist daher nicht gegeben. Jedoch übersieht diese Ansicht der Bundesregierung dass der „inter partes“-Grundsatz nichts mit der Frage zu tun hat, ob und in welchem Umfang die Finanzverwaltung bei weiteren Fällen an die in der Entscheidung des BFH aufgestellten Grundsätze gebunden ist .
Aufgabe des BFH als Revisionsgericht ist die letztinstanzliche Auslegung von Steuergesetzen. Dies beinhaltet auch die Fortbildung des Rechts im Rahmen der Gewaltenteilung. Der BFH gibt damit grundsätzliche Leitlinien zum Verständnis und Auslegung der Steuergesetze vor.
Aus diesen Aufgaben ergibt sich dann auch zwingend die Bindungswirkung an die Entscheidungen des BFH für die Finanzverwaltung bei der Beurteilung weiterer Fälle. Der BFH wäre andernfalls nicht in der Lage eine einheitliche Rechtsprechung zu sichern oder zur Fortbildung des Rechts beizutragen wenn sich die Wirkung seiner Entscheidungen im Einzelfall erschöpfen würde.
Das gilt nur dann nicht, wenn ein Verfahrensmangel nach § 115 Absatz 2 Nummer 3 Finanzgerichtsordnung geltend gemacht wird. In einem solchen Fall kann daher durchaus davon ausgegangen werden, dass ein reiner „Einzelfall“ besteht, der keine Bindungswirkung für die Verwaltung hat. Jedoch kommt es in diesen Fällen regelmäßig zu keiner Entscheidung des BFH, da dieser in einem solchen Fall in der Regel durch Beschluss das angefochtene Urteil aufhebt und den Rechtsstreit an das zuständige FG zurückverweist (vgl. Lange, DB 2005 S. 354).
Im Übrigen spricht bereits die Existenz der NAE selbst für die grundsätzliche Bindungswirkung der Rechtsprechung. Andernfalls wären die NAE nicht erforderlich.
Die Behauptung der Bundesregierung NAE dienten der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist kaum nachvollziehbar. Ein NAE führt dazu, dass die Entscheidung nicht auf andere vergleichbare Fälle anderer Steuerpflichtiger angewendet wird. Dies hat zur Folge, dass der Steuerpflichtige in konkreten Verfahren anders behandelt wird als alle anderen Steuerpflichtigen. Es findet also gerade keine gleiche Behandlung und damit auch keine Gleichmäßigkeit der Besteuerung statt.
In die Betrachtung mit einzubeziehen ist zunächst der in Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz verankerte Grundsatz der Gewaltenteilung. Dieser sieht eine grundsätzliche Trennung der staatlichen Gewalt in Legislative, Exekutive und Judikative vor. Er umfasst allerdings auch die gegenseitige Kontrolle der Staatsgewalten. Jedoch geht dies nicht soweit, dass in den jeweiligen Kernbereich der anderen Gewalt eingegriffen werden darf.
Der Finanzgerichtsbarkeit kommt in diesem System – als Teil der Judikative – in erster Linie die Aufgabe zu, Streitigkeiten zwischen dem Staat und dem Bürger im Bereich des Steuer- und Zollrechts zu entscheiden. Dies beinhaltet die Kontrolle der Exekutive in diesen Bereichen. Umgekehrt ist jedoch die Verwaltung auch zur Kontrolle der Gerichte berechtigt. Aus diesem System von Trennung und Kontrolle ergibt sich naturgemäß ein gewisses Spannungsverhältnis.
Im konkreten Spannungsverhältnis zwischen Finanzverwaltung und BFH ist zu beachten, dass die Rechtsfortbildung und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung unzweifelhaft zum Kernbereich des BFH gehören. Ein Eingriff durch die Finanzverwaltung in diesen Kernbereich durch einen NAE ist im Hinblick auf Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz verfassungsrechtlich äußerst problematisch. Daher ist ein solcher Eingriff nur gerechtfertigt, falls die Finanzverwaltung sich aufgrund ihrer Bindung an Recht und Gesetz dazu verpflichtet sieht im Rahmen der Gewaltenkontrolle einzuschreiten. Dies ist zum Beispiel dann denkbar, wenn sie von einer Fehlentscheidung des Gerichts ausgeht. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn eine offensichtliche Rechtsfehlerhaftigkeit vorliegt. In allen anderen Fällen spricht Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz gegen eine Zulässigkeit von Nichtanwendungserlassen.
Die Wirkung der Entscheidung des BFH ist zumindest in den Fällen des § 115 Absatz 2 Nummer 1 und 2 Finanzgerichtsordnung gerade nicht auf den Einzelfall beschränkt. Die Beseitigung dieser Wirkung mittels eines NAE ist verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. Nur in wenigen Einzelfällen, d. h. insbesondere bei einem Fehlurteil, kann ein NAE in Betracht kommen. Er muss dann jedoch eine ausreichende Begründung für die Annahme eines Fehlurteils enthalten.
Ausgezeichneter Kommentar. Leider hat meines Wissens noch niemand einen Weg gefunden, gegen die NAE im Grundsatz und fallübergreifend vorzugehen.
Hier müsste ein kompetenter Kläger einmal vor das BVerfG gehen. Stichhaltige Begründungen gibt es ja wohl genug.